BG – birthday-day

Ich sollte das alles aufschreiben. Für Dich, liebe Thea. Denke ich mir so, während ich an meiner Zigarette ziehe. Der letzte Zug. Ich muss pinkeln. Es ist 10.03 Uhr. Ich sitze auf einer Bank vor der gotischen Klosterkirche von Brunshausen bei BG. Das eine Café öffnet erst 16, das andere 13 Uhr. Ich befrage mein Schlaubifon zu diesem Ort. Wikipedia. Gegründet im 9. Jh. als Nonnenkloster vom Bischof von Mainz. Der wollte nicht, dass dieser Flecken Erde dem Bischof von Hildesheim in die Hände fällt. Ein Kloster mit weiblicher Belegschaft als Kampfmittel. Sehr fortschrittlich, dieser Bischofsmann. Und immer wieder dieses Hildesheim. Mehr als ein halbes Hundert Kilometer von hier nördlich. Bereits die drei Kilometer von der Schule bis zum Kloster haben mich eine Stunde Fußmarsch gekostet. Wie lang müsste ich bis Hildesheim laufen? Der Hildesheimer Bischof hat am Ende die Nase vorn gehabt und verwandelte das Frauen- in ein Männerkloster. Das war jedoch keine gute Idee. Denn ein paar Kilometer weiter existierte bereits eines. Deshalb meldete Brunshausen kurzdarauf sozusagen Konkurs an. Es musste dicht machen. Oder wie es bei Wikipedia so schön heißt: „Man hatte erkannt, dass zwei Männerklöster in so großer Nähe nicht sinnvoll waren.“

Ich muss immer noch pinkeln. Also wieder zurück auf den Skulpturenwanderweg. Eine Skulptur hab ich nicht getroffen, dafür eine Infotafel, die die Rotbuche zum Baum des Jahrhunderts kürt. Glückwunsch! Soll ich hier in den Wald pieseln? So richtig Wald gibt es hier allerdings nicht. Immer wieder Siedlungsspuren.

Die Sonne vertreibt kurz die dicken dunklen Wolken und lässt die Häubchen der Diakonissinnen hell blitzen. Ein Kloster der Moderne. Wieder mit weiblicher Belegschaft. Eine Seniorinnen- und Seniorenresidenz. Haus Hoffnungsgrund. Amen. Hier gehe ich aus Prinzip nicht pinkeln.

Vorbei an einem Parkplatz. Menschenleer. Nur ein paar abgestellte Anhänger. Unter anderem ein Wurstverkaufsanhängerbüdchen gekrönt von der Aufschrift: „Spitze Wurst!“ Ein leerer Wohnwagen. Daneben ein transportierbares Klo. Abgeschlossen. Soll ich hier mitten auf den Parkplatz schiffen? Obwohl es sich hier bei dieser Region um nowhere and nobodysland handelt, bleibt der markusische Urinstinkt bestehen, nicht in der Öffentlichkeit die „spitze Wurst“ auszupacken. Auf diesem Parkplatz ist sicher seit Tagen, Wochen, niemand mehr gewesen. Trotzdem.

Ich sprinte zu einer Waldlichtung. Vergewissere mich. Die Luft ist rein. Nur ein paar Walderdbeeren am Waldboden werden etwas von dem, was gleich passieren wird  mitbekommen. Ich öffne alle Schleusentore und aus meiner Blase entläuft die dreifache Menge an Wasser, wie die, die die Gande mit sich führt. Hinter mir eine Joggerin mit einem Golden Retriever. Sie kuckt pikiert. Ich und der Hund kucken erleichtert.

Ich wollte es eigentlich alles aufschreiben für Dich, Thea. Leider habe ich Stift und Papier in der Turnhalle vergessen. Ich trödele wieder zurück zur Schule, wo ich Dir begegne, schöne Frau. Du gibst mir einen Kuss und rätst mir ins Café „Quo vadis“ zu gehen. Du hast mal ein Lied darüber gesungen.

Liebste. Was mach ich hier eigentlich? Frieren. Pinkeln gehen im Wald. Unnütz rumlaufen. Klöster besichtigen. Vor leeren Café s stehen. Ich hab kurz darüber nachgedacht wieder abzureisen oder ins 50 Kilometer entfernte Hildesheim zu fahren und meinen Bruder zu besuchen. Doch ich verwerfe diesen Gedanken schnell, denn ich weiß eigentlich, was ich hier soll. Ich begleite Dich. Und wenn Du auch gerade einen Workshop gibst und Dich auf diesen konzentrieren musst, ich denke trotzdem ganz frech an Dich und bin bei Dir. Der Skulpturenwaldweg sieht aus, wie der Waldweg in Erlangen vor einem Jahr, der zum Burgberg hinaufführt. Wir küssten uns dort. Katha kennt Dich seit 28 ½ Jahren, schreibt sie. Ich bin etwas neidisch auf sie, denn ich will Dich auch so lange kennen. Liebste, während ich mich im einen Moment frage, was ich hier will und ganz traurig bin, bin ich im nächsten Moment froh hier zu sein. Im übernächsten Moment wiederum bedaure ich, dass Du workshopst und nicht mit mir durch den Wald läuftst. Im überübernächsten Augenblick hingegen erlebe ich mich hocherfreut darüber, dass Du Deine ganze krasse übersprudelnde Energie, Deine Kreativität, Deine Freude in diesen großartigen Workshop investieren darfst. Ich habe keine feste Meinung zur Situation. I only live once. Im Moment. Und der ist halt mal so und dann mal wieder so. Aber ich bin hier! In BG! Und das, weil ich Dich liebe, Thea!

Deshalb will ich das auch alles aufschreiben. Nachdem ein freundlicher Workshopleiter, der mit etwa zehn jungen Menschen die Turnhalle in Beschlag genommen hat, mir die Tür zu dieser öffnet, kann ich endlich Stift und Papier aus meinem Rucksack holen. Der Workshop spielt Ball.

Noch schnell zu Netto und ein neues Feuerzeug kaufen, denn mein altes habe ich Deiner Kollegin Anne zu Deinem Geburtstag geschenkt. Es gibt bei Netto nur Dreierpackungen. Also gönn ich mir drei neue Feuerzeuge. Auf einem steht „I love you“. Das kriegst Du.

In meiner Vorstellung setz ich mich jetzt in’s Café „Quo vadis“, schlürfe Kaffee und schreibe das alles auf. Also frage ich mein Schlaubifon: „Quo vadis?“ 53 Kilometer von hier entfernt in Hildesheim Immer dieses Hildesheim.

Ich mache mich also selbst auf die Suche nach dem Café in Bad Disneylandsheim. Ein komisches Nest im Süden Niedersachsens. Etwa eine Reisebusladung Rentnerinnen und Rentner, mit Kameras und Gehhilfen bewaffnet, nehmen sich vor, die fünf schönen Straßen des Zentrums zu erkunden. Vor einem Wohnhaus eine Bank. Sie ist mit einem Vorhängeschloss an der Regenrinne festgebunden worden, als hätte die Bankinhaberin oder der Bankinhaber Angst, die Bank könne von Touris geklaut und im Reisebus verschleppt werden. Ich traue das den Touris hier nicht zu. Sie haben schon Mühe die Gewichte ihrer Gehhilfen und Kameras durch die fünf schönen Disneystraßen zu schleppen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner von BG scheinen prinzipiell zu Skepsis zu neigen. So erkläre ich mir auch ihre skeptischen Waldschratgesichter. In diesem nowhere and nobodysland scheint Skepsis angebracht. Von jeher kommen alle möglichen Fremden hier her und wollen sich einfach so breit machen. Der Mainzer Bischof aus dem Süden. Der Hildesheimer aus dem Norden. Skepsis gehört also schon seit Urzeiten zum antrainierten Verteidigungsmechanismus der Hiesigen gegen fremde Mächte. Weder Nord- noch Mitteldeutschland. Weder Harz, noch Leinebergland, noch Wesergebirge. Irgendwo dazwischen. Nowhere and nobodysland.

Quo vadis, BG? Das Café hat erst ab 14.30 Uhr geöffnet. Es ist 12 Uhr. Teenies wollen hier um neun mit Workshops anfangen. Aus den Fachwerkhäuschen strömt schon seit einer Stunde Mittagessenduft. Aber die Cafés machen alle erst ab Nachmittag auf. Und ich muss schon wieder pinkeln.

Ich setze mich auf eine Bank. Keine angebundene. Ich überlege kurz. Dann will ich den ersten Satz schreiben. Da poltert es neben mir los: „Ich setz mich mal neben Dich. Dazu ist die Bank ja da. Zum Hinsetzen!“ Ein Mann, wahrscheinlich um die achtzig, Brille aus zwei Goldfischbehältern, „I love brasil“-Hemd, drei graue Resthaare nach hinten gekämmt, nimmt Platz. „Darf ich Dich fragen, was Du hier machst? Willst Du was Schreiben? Lernst Du was? Heute wird ja nur noch gelernt. Studiert!“ Ich entgegne, ich sei schon fertig mit dem Studieren. Übrigens, außer „Hmmm“, „Ja“ und „Ähhhm“ das einzige, was er mich in dieser Unterhaltung zum Besten geben lässt. „Du siehst noch nicht aus, wie zu Ende studiert. Ich mein das jetzt nicht beleidigend. Du hast Dich gut gehalten. Jugendlich siehst Du aus. Zu meiner Zeit gab`s das nicht mit dem ewigen Studieren. Da musste man sofort ran. Nach der Schule. Ich kam 46 hier her. In dieses Nest. Aus Schlesien kam ich. Die waren alle nicht unbedingt gastfreundlich. Komische Gegend. Keine richtige Sprache. Irgend so ein Platt. Ich versteh das bis heute nicht. Naja. Ich könnte jedenfalls nicht den ganzen Tag so auf der Bank sitzen und schweigen und schreiben. Ich muss immer erzählen. Mach’s gut! Schönen Tag noch!“ Ich monologisiere auch gerne, Liebste. Du weißt das am besten. Aber dieser Mann monologisiert aus einem anderen Grund. Er scheint Opfer der BG-Verteidigungsstrategie geworden zu sein. Ein Fremder, ein Eindringling, in nowhere and nobodysland. Er steht auf und geht.

Ich stehe auch auf und gehe. Im Gasthaus „Zur Ecke“ werden eben die Stühle rausgestellt. Es ist nach 12 Uhr. Die erste Lokalität scheint zu öffnen. Auch über diese Gaststätte hast Du mal ein Lied gesungen. Ich stürme rein und besuche die Toiletten. Eine freundliche Italienerin begrüßt mich mit den Worten: „Soll ich Ihnen bringen deutsches Kaffee?“ Genau das bestelle ich. Ich setze mich. Vier alte Männer trinken die ganze Zeit Bier. „Diese komischen Mullahs mit ihrem, wie heißt der nochmal, Islam, nein, Allah. Wenn mein Vater noch leben würde, hätte er jetzt gesagt, es müsste einen neuen Hitler geben. Na ist doch so. Die bauen hier ihre Moscheen hin. Soll ich mal in den Irak gehen und da eine Kirche bauen?“ Wieder die BG-Verteidigungsmechanismen gegen Fremdes. Am Tisch gegenüber Touris aus Bayern. Sie essen Currywurst und loben die niedersächsische Rauchgesetzgebung. Sie paffen eine nach der anderen durch. Im Radio läuft ein Thüringer Sender. Nowhere and nobodysland. Fremde und Fremdes zieht es ganz gern hier her.

In fünf oder sechs Stunden sind die Touris wieder zu Hause. Ich bin zu diesem Zeitpunkt noch immer in BG. Im nowhere and nobodysland. Vielleicht lese ich Dir dann diese Zeilen vor, Liebste. Ich bin hier, weil Du auch hier bist. Ich versuche nicht zu klagen. Das soll keine Elegie auf die niedersächsische Provinz werden, sondern ein Hymnus auf den Moment. I only live once. You have only one time in your live this birthday-day. Und Deinen birthday-day hast Du, ohne es vielleicht absichtlich intendiert zu haben, auch ein stückweit mit mir verbracht. Und so geht es nun schon fast ein Jahr. Du bist vielleicht nicht immer körperlich anwesend. Aber Du begleitest mich immer und überall hin: In den Wald zum Pinkeln, in die Turnhalle, ins Gasthaus „Zur Ecke“. Überall und immer bist Du bei und mit mir. Das wollte ich Dir schon immer mal schreiben und sagen. Die Antwort auf die Frage „Qua vadis?“ scheint teilweise beantwortet. Ich liebe Dich und möchte Dich die nächsten 28 ½ Jahre mit mir rumschleppen. Das wünsche ich mir zu Deinem Geburtstag.

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