Der Laden und das Bier

Ich war schon lange nicht mehr alleine in einer Kneipe.
Also: Ich war schon lange nicht mehr alleine in einer Kneipe in einer Stadt in der ich niemanden kenne.

Die Kneipe hat den unprätentiösen Namen Der Laden, und ich kenne niemanden hier, denn ich bin in einer neuen Stadt. Aber es ist noch nicht mal zehn, zu früh um schlafen zu gehen, also ist es eben der Laden und ich bestelle erst einmal ein Bier, als sich der Laden langsam füllt mit Leuten die sich kennen. Gestikulierende, schwatzende, schwimmende und langsam auch schwankende und tanzende Konturen um mich herum, um mich und mein zweites Bier. In meinem Rucksack ist ein Ausdruck eines Fotos vom Meer, von einem Fjord und einer kleinen Möwe in Schwarz, scharf abgegrenzt gegen den unscharfen Hintergrund. Wenn mich jemand darauf anspricht, kann ich etwas darüber erzählen, aber da dies niemand tun wird ist da nur der Laden und das Bier, oder vielleicht der Fjord und die Möwe.
Was ist hier Möwe und was ist Fjord?

Denken wir die Möwe. Dies ist die Möwe:

Der Fjord ruht und die kleine Möwe in Schwarz dreht ihre Kreise. Eine schwarze Kontur, scharf abgegrenzt gegen den unscharfen Hintergrund. Zeichnet man ihren Flug mit einer roten Eddinglinie nach, entstehen geometrische Kurvengebilde, Zirkulationsmuster, Raster aus Parabeln und Hypotenusen gegen den unbeweglichen Horizont, Linienspuren, die irgendwann, lässt man der kleinen Möwe nur genug Zeit, das ganze Bild rot gefärbt haben werden.
So dürfen wir die Möwe aber nicht denken. Wir dürfen ihren Schweif nicht als vollendetes Gemälde eines Dreijährigen denken, der zum ersten mal Familienalbum und Farbstift zusammenbringt und eine recht absurde Macht kennenlernt.  Aus Sicht der Möwe bewegt sich die Möwe gar nicht. Wir müssen die Möwe selbst denken, den Pinselkopf, einen perfekten, ausdehnungslosen Punkt, der den Schweif nur als flackernden Schattenwurf kennt, als verblassendes, leise ruderndes Nachlicht. Die kleine Möwe verharrt im Zentrum ihres Universums, in perfekter Stille, nur ihre Flügel bewegen sich kraftvoll, drücken mit jedem Schlag die Häuserzeilen unter ihr in Aufruhr. Die unbewegliche kleine Möwe krümmt den Raum um sich herum, verzerrt die Luft und den Fjord zu einem Spiegelkabinett aus pulsierender Dynamik. Der Fjord unter ihr wird zu einer Membran, zur Visualisierung ihrer Flügelschläge, die selbst nur ein Ausdruck ihrer Seelenbewegungen sind, und die Zoom-Effekte auf dem Fjord bloß Projektionen des Sturzgefühls, das ihre angelegten Flügel auf dem Scheitel der Parabel erzeugen, ohne dass sie je das arretierte Zentrum ihres Universums verlassen könnte.
Das ist die Möwe, und die Möwe ist das Bier und der Laden ist der Fjord, der sich stets verändert und verschwimmt und verschiebt und die Menschen kommen und gehen und tanzen, doch ich bleibe auf meiner Eckbank am Tresen mit meinem Bier, und die Bewegung ist nur in meinem Kopf, projeziert auf den Schirm des Ladens, des alten Fjordladens.

Ich bestelle mir also noch ein Bier, denn was soll ich auch sonst tun, und weil ich ein wenig an der Plausibilität meiner Überlegungen zweifele, versuche ich es mit einem Gegencheck. Ich versuche, auch den Fjord zu denken.
Denken wir also den Fjord. Dies ist der Fjord:

Über ihm zieht die kleine schwarze Kontur ihre Kreise, scharf abgegrenzt gegen den Hintergrund. Der Fjord ist nicht abgegrenzt und er hat keinen Hintergrund. Die Möwe ist so sehr Möwe und nichts als Möwe, dass jeder, dem man das Bild zeigt, sofort sagt: Oh, ein Bild von einer Möwe! Der Fjord zeichnet keine Linien und bezeichnet keine Vektoren, obwohl er sich auch immer irgendwie bewegt und doch nie wirklich verändert, nie von irgendwo nach irgendwo will, vielleicht nimmt seine innerliche Bewegung die halbe Welt ein vom Horizont bis ganz in den Bildvordergrund, doch es wird nichts ändern. Streng genommen ist es nicht mal korrekt, ihn DEN FJORD zu nennen, denn dann wäre auch das Meer der Fjord und all die Kanäle, die in ihn einfließen, das macht aber keinen Sinn, vielleicht sollte man einfach nur sagen: es fjorded unter der Möwe, genauso wie es donnert, wenn der Sturm kommt, ohne dass in irgendeinem Punkt der Donner lokalisierbar wäre.
Das ist der Fjord und das Bier ist natürlich der Fjord, das Fjordierende, und der ganze Laden gefüllt voller kleiner schwarzer Möwen, denn ich und mein Bier sind einfach nur da, keine Ahnung wie lange schon, haben auch nirgendwo hinzukommen hier, und alles bleibt irgendwie gleich, während die Möwen ihre kleinen Kunststücke vollführen und tanzen und fliegen, schon dreimal das konkrete Personal durchgewechselt hat und alle überall bunte Spuren durch den Raum ziehen, denen ich altes Fjordwesen langsam überdrüssig werde zu folgen. Für die Möwen existiere ich höchstens als Horizont, ohne Namen.

Identifizierung ist immer schwierig. Es sprechen gute Gründe dafür, dass ich etwas Fjordartiges habe und der Laden etwas Möwenhaftes, und es sprechen gute Gründe dafür, dass es genau umgekehrt ist.
Aber die Möwe wird nie Teil des Fjords sein und der Fjord nie Teil der Möwe.
Ich war übrigens schon lange nicht mehr alleine in einer Kneipe in einer Stadt in der ich niemanden kenne. Bleibt das jetzt viele Monate so?
Die Möwe und der Fjord haben sich gegenseitig verdient, könnte ich mir denken.

Wahrscheinlich wäre das mein Stichwort, schlafen zu gehen.
Aber da noch viele solche Abende folgen werden, in nächster Zeit, könnte ich mir auch noch mal das Foto herausholen,
mir noch ein Bier bestellen,
und anfangen, über diese Häuserzeile zwischen beiden nachzudenken.

Am Ende habe ich dann noch Spaß mit diesem Fotoausdruck.

 

 

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