Nachtkästchen: Der alte König der Welt

– Eine Suche in vier Bildern –


1. Bild: Vor den Toren der Stadt – 1472 anno domini

Die stahlbeschlagenen Hufe seines schweren Tölters schaben unruhig im Schlamm vor dem Brückenkopf, als der Morgennebel den Blick auf die zurückkehrende Reiterschaft freigibt. Schon als sie die Willigisbrücke nur halb überquert haben, sieht Shadrach, dass es zu wenige sind. Die Überfälle hatten zugenommen, mit jedem Meter, den sie der gewaltigen Feste näher gekommen waren, und er hatte nicht damit gerechnet, alle seiner ausgesandten Ordensbrüder wiederzusehen.Abednego würde dies als weiteres Zeichen dafür sehen, das Lager endlich aufzugeben und die Tore des Roten Kopfes mit all der Macht zu nehmen, die ihnen der Heilige Vater zur Verfügung gestellt hatte. Als die ersten Reiter der Ordinalschaft Shadrach müde grüßen, weiß er bereits, dass er hier nichts Neues erfahren wird. Nichts darüber, was sich hinter den Wällen aus Stein und Zinn und Trutz abspielt, deren dunkle Konturen sich langsam, wie ein wucherndes Gebirge über dem Fluss abzeichnen. Nichts darüber, ob ihre Suche hier Erfolg haben mochte, ob die Spuren, die sie von Damaskus bis Staffelstein verfolgt hatten, sich hier zu einer Person verdichten werden – oder sich erneut im Wind zerstreuen, wie all die Völker und Städte, als das Reich zerfiel.Und doch gibt es nun wieder so etwas wie zornige Hoffnung. Die Spur führt nach Johannisburg. Shadrach würde Ihn finden. Wenn er noch zu finden war, wenn er auch selbst unter dem Feuer der Kupferweinberge des Schlosses enden sollte. Zweimal schon wäre es fast dazu gekommen; die Angriffe der marodierenden Banden wurden verzweifelter, Monat um Monat, den sie gen Norden marschiert waren, wurden endgültig wahsinnig, als sie schließlich die Ufer des Mains erreichten.

Hier hatte es angefangen, sagt man, vor einigen Jahren, kurz nachdem Der König verschwunden war. Hier tauchten die findigen Maschinen, die Druckerpressen, das griechische Feuer, die Zugwägen und die Wasserleitungen, hier tauchte all das zum ersten Mal auf, was so vielen Landarbeitern, Schmieden, Schwertmeistern und Schreibern ihre Existenzgrundlage entrissen hatte. Seither ziehen sie durch die Lande, als Armeen der Verlorenen und Verdammten. Wenn er auch seinen eisernen Gantelet ein ums andere Mal auf sie herniedergelassen hatte, verspürte er doch auch Bedauern hinter seinem Grimm auf diese Heimatlosen.

Ein niemand sollte gezwungen werden, sich zu verändern.

„Werden sie uns einlassen?“ Abednego antwortet nicht, braucht nicht zu antworten. „Was geschieht hinter den Mauern?“ „Die Tore sind verschlossen, der Einlass verwehrt. Irgendetwas war zu hören. Ein Summen, wie von hundert Essen, ein geschäftiges Schlagen, wie von tausend Hochöfen. Und wieder dieses Lied“. Shadrach wendet sich wortlos ab, um seinen Tölter durch den Schlamm der Mainufer zum Wappenzelt zurückzuführen. Abednego und zwanzig seiner Ordensritter folgen ihm. Es war wohl an der Zeit.

Wieder dieses Lied. Der schwarze Palladin würde auf sie warten und erneut aussprechen, was er so oft ausgesprochen hatte – und diesmal würde Shadrach ihm nicht so scharf entgegnen. Er verstand den Zusammenhang nicht, noch nicht, doch es konnte kein Zufall sein. Hier hatte es begonnen, vor einigen Jahren, die Erfindungen, die Veränderungen, und hierhin führt nun die Spur. Der lange Marsch hatte ihn das Ausmaß des Chaos am eigenen Leib schmecken lassen, in welches das Reich zerfallen war. All die Jahre hatte ihn sein Stolz davor geschützt, die Augen zu öffnen; er hatte das Ministerium der Reichsverwesung so viel länger stolz gehalten, nachdem der Sitz der Welt schon lange verwaist war… Doch dann hatte der schwarze Palladin ihm die Augen geöffnet und der Heilige Vater ihm zwanzigtausend Ordensritter unterstellt.

„Der König der Welt ist noch am Leben“, wurde gesagt. Und ein heiliger Eid wurde geschworen. Nichts sollte gezwungen werden, sich zu verändern. Die Welt sollte nicht dazu gezwungen werden. Doch der König hatte sein Amt niedergelegt und war verschwunden, und er hatte ein Reich dazu verdammt. Und nun würde er dafür zahlen. In Ketten und Eisen würde er auf seinem Thron sitzen, bis zum Ende der zeiten, und die Welt würde genesen. Ordnung.

Alles, was dazwischen lag, waren die Tore des Roten Kopfes. Und all das, was dahinter auf sie warten mochte. Und dieses Lied, das verdammte Lied, das immer wieder über den Fluss getragen wird. Der Klang verbirgt seine Gestalt klug zwischen den Hammerschlägen und dem ständigen Tönen der Esse, aber jedesmal meinen sie, es gleich klarer greifen zu können, gleich die Melodie heraushören zu können. So auch jetzt, als zwanzigtausend schmutzige Reiter, müde in den Morgennebeln, erneut zu den Felsgebirgen Johannisburgs blicken, die ihre langen Schatten über Fluss, Heer und Lager ergießen. Nein, nicht die Schatten, denkt Shadrach, das Lied, sie gießen dieses verdammte Lied über uns. Und dann lächelt er kurz. Auch Abednego lächelt. Selbst unter der Totenmaske des schwarzen Palladins scheint sich etwas zu regen. Für einen Moment scheint alles so klar und einfach und richtig. Der Moment endet.

Das Lied zieht sich unter den Wellengang der Schmiedelaute zurück, hinter den Mauern.

Und Shadrach spricht den Angriff.



2. Bild: Vor den Toren der Stadt – 28. September 2007

„Und wo steckt eigentlich der Felix?“ Das Klackern der Sprühdose übertönt fast Kilis Stimme, Lukas scannt reflexartig den Horizont ab. Hin und wieder übertönt das dumpfe Grollen der Brückenstielen unter den vorbeirollenden LKWs alles andere. „der Felix? Keine Ahnung“. Später wird sich niemand mehr erinnern, wer nun genau dabei gewesen war, und das nicht nur aus rechtlichen Gründen; war es Moe, war es Ferhat? Es wurde viel darüber geredet hinterher, jeder in seiner eigenen Version, und jeder glaubt Erinnerungen zu haben. ‚Also ich war auf jeden Fall dabei‘, glaube ich.Wer sich der eigenen, verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor Allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf ein und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen, wie man Erde ausstreut, ihn umwühlen wie Erdreich. Sachverhalte sind nicht mehr als Erdschichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, um dessentwillen sich die Grabung lohnt.In einer möglichen Variante sind es Lukas und Kili alleine, die in die Büsche springen, als ein neuer LKW mit gravtitätischer Langsamkeit seinen Lichtkegel über den Brückenkopf aufsteigen lässt. Das Erdreich dieser Erinnerung könnte auf der großen Karte der anekdotischen Biographien unseres Lebens unter dem folgenden Lemma verzeichnet sein: Lukas will eine letzte Signatur hier hinterlassen, in diesem Europa und in diesem Leben; als Herold des Logos, als Zeitstromschipperer. Und die blaue Grundierung auf der Metallfläche liegt schon fertig vor ihnen, durstig nach gewitzter Neubeschriftung.

Keiner weiß es mehr genau, aber ein Gespräch zwischen Kili und Lukas könnte sich um Pfade und Verzweigungen gedreht haben, um Anfänge und Neuanfänge. Und Abschiede. Um Veränderung. „Ja, ich muss halt einfach viel aus Japan posten“. Statt etwas zu erwidern zieht Kili ihn in das Dickicht zurück, als eine weitere geometrische Lichtschattenkreatur vom Horizot emporsteigt, immer vor den metallenen Patrouillen empor.

Minuten später, die Sprayflasche verströmt immer noch ihr koboldhaftes Klackern. Kili hat sehr angestrengt nachgedacht. Vielleicht waren auch schon Kamele im Spiel, vorher. „Ach, es ging doch nie um Orte“, könnte er daraufhin gesagt haben, „Erlangen, Freiburg, Berlin, Blabla-Hausen… unser Zuhause war doch immer, wo wir etwas gemacht haben“.  Im anderen Zuhause, bei Kili in der Bude, sitzen die Leute, ein Abend wie in der guten alten Zeit. Vielleicht Ferhat, vielleicht Markus, vielleicht Georg. Parallelmontage: Auf der Autobahnbrücke fragen sich zwei Kunstterroristen in Gotcha-Masken, wohin es jetzt gehen wird mit diesem LukasKiliWildeleben.

Die Beschriftung ist vollendet. STYX. Das MainEcho wird Tage darauf darüber spekulieren, ob hier eine politische Aussage formuliert sein könnte, die Pforten nach Bayern als Überquerung des Totenflusses. Vielleicht Studiengebühren? Natürlich ging es aber nur um den Endorphinstoß, wenn ein weiterer Eintrag greifbar geworden ist. Fast zeitgleich zum Main-Echo wird Lukas im Flieger, etwa über Dubai, etwas in sein Notizbuch schreiben, und das ist sogar real dokumentiert:

„Ich habe eigentlich keine Ahnung, was ich in Japan soll. Aber ich werde mächtige Geschichten zurückschicken übers Meer, auf dem Schipperer. Als Herold des Log Ost.“  Alles andere mag im Sturm der Veränderung untergehen, aber Felix wird die Burg halten, und wir alle schippern mit. Als die beiden durch die Ausfahrtsstraßen Kleinostheims am nächtlichen McDonalds vorbei zurücktraben, sind beide in Gedanken. Kili könnte etwas entgegnet haben, was er so aber sicher nicht gesagt hat. Er könnte erwidert haben, dass auch Felix nicht genau weiß, wohin die Reise geht. Kili und er werden nicht ewig bei B2 bleiben, und auch diese Sache mit Lea könnte nicht für die Ewigkeit sein.

Das sieht in dieser Nacht aber keiner. Lukas wird in Japan anfangen Hegel und Kant zu lesen und ein Jahr später wird der Zeitstromschipperer im Sterben liegen. Aus einem Schipperer wird ein Kulturwissenschaftler, so wie der Main zum Styx wurde, in dieser Nacht.  Wahrscheinlich hat Kili nicht davon gesprochen, dass ein Aufbruch, so ein tüchtiges Aufbruchs-Ereignis, früher oder später auch vor Felix nicht halt machen kann. Ganz sicher aber hat er nie mit wissendem Lächeln dieses Lied auf dem Player angemacht, zu dem sie nun, auf den letzten Metern den Wingert hoch, leise mitsummen. Eine Hymne auf alles, was noch nicht ist. „Das hat Felix neulich auf der Arbeit laufen lassen“, hat Kili nie gesagt. Und trotzdem erwartet es die beiden auch aus den Boxen in seinem alten Zimmer, wo die Jungs bereits auf Berichte von der Sprühaktion warten.

Eine Hymne auf alle Welten, die noch nicht sind. Gesandt, von einem Felix, den es so erst viel später gab. Und keiner weiß, wo es als Nächstes hingeht.



Tableau 3: In front of the City Gates – 2083.

The damp, rhythmic sound of black combat boots on rotten concrete had a strange harmony to it. Almost tuneful, he thought, as he steadied his rifle. Clinging to the thought for a while, Shardach Selviro quickly forced his attention back on nothing but the dark corridors ahead of him and his troops close behind. As executive commander of most black ops missions these days, he had little and less interest in the luxuries of arts or music.Judging from the fire in his second-in-command’s eyes, his unit was eager to prove its grim reputation too. “This is where the ventilation shafts cross into Highstreamburg’s territory. Do we have new intel on the target yet?” Abednego Shark whispered behind him.”Potentially Class 10 magique. Still the possibility of the target acting on its own even with a turnmask on”, Shadrach replied dully. “Which still is… impossible! Last week there were alarms about some ‘roaring unhuman in a backyard’, that turned out to be some slacker having dirty dumpster sex.” Was Abednego somehow HUMMING his insolent reply now? Like a dog chasing its own tail in his mind, the commander pushed this nonsense away, as he and his troopers of seven entered the  facility’s main depot.

Everyone spotted him at once, but only Abednego and himself recognized the long pointy hood, the floating robe and the cold, gleaming turnmask staring at them from the distance. Nothing moved.

“You are fucking ass-shitting me…” his second-in-command trembled. “Take positions” Shadrach shouted, as he caught a glimpse of a gloomy, dark ebony violin – or was it a cello? – lying to his left on a shelf. He ignored it. “The Trumpeteer is a Class S Arch-Mage. Take Aim!” The squadron nervously encircled the tall, unresponsive figure. Abednego’s whispers had an unsettling, quavering quality: “last year’s briefing, the Trumpeteer was almost ranked a higher priority than the king. And the king is like, everything!”

As the figure’s strange, vibrant laughter started to fill the hall, some tune kept playing itself through Shadrachs memory again, the maddening kind that mockingly ignores all commands of the conscious mind. Then it enclosed itself into words: “A king is only some small part of the tale that he is told in, is he not?” The Trumpeteers voice was resonating in four different chords at least, not at all muffled by the blank gape of the mask.

“He is powerless without his horn! Don’t move, abomination!” Abednego shouted. The figure didn’t, yet the humming of his voice seemed to come from all directions at once. “There is a tale about a great emperor who returned triumphantly into his capital; chariots, cheering smallfolk, a parade for their immortal ruler!” the chords sang. Shadrachs troops scanned the room frantically, as the resonance suddenly came from behind them, as there was a second Trumpeteer standing motionless beside, except the first one was gone. They opened fire all at once, but the figure was gone, his voice resonating somehow not from within the room, but WITH it.

“But with him on his chariot there was a slave with the emperor, you see, and he had to keep whispering the same sentence in his ears, over and over again.” Shadrachs thoughts came with aggravating slowness now. “Remember that you are mortal, too, the slave kept whispering”

Now Shardach opened fire as well, as he glimpsed a movement where the dark, gloomy ebony violin – or was it a cello? – had been, except it wasn’t there anymore. “But the emperor in our story wasn’t mortal at all, you see”, the groaning rose and fell, becoming louder, until the whole cellar was full of the sound, an abstract noise of effort and intensity, “he wasn’t mortal, since we are telling this tale for centuries now!”

Now he stood in the middle of them all, and suddenly everything went into slow-motion. The huge sandstone blocks on the ground, that Shadrach remembered evenly cornered, were now at every drunken angle.

“if there must be a tale to forge a true ruler: who is your king of the world, really?” As the bow touched the first string of the ebony Cello – for it was no violin! – Shadrach learned some answer. Something that his mind couldn’t grasp. Something broke inside of it.

As the Trumpeteer gently stroke over the second string, Shadrach understood.

Then they let harmony take over.

This is how Squadron Six ended.



4. Bild: Vor den Toren der Stadt – 5 Jahre nach dem Großen Knall

“Hier steckt also euer Felix.” Vor Stefan Myriaden Schornsteine unterschiedlichsten Materials, Kalibers und Proportionen. Die Ausläufer von Styx in Form exotischer Pilze, die neben der Mainbrücke nach oben wachsen. “Nettes Plätzchen. Fuckin’ love it.” Sie haben den Kasten auf dem Parkplatz zurückgelassen, mehr eine befahrbare Plattform als wirklicher Parkplatz, ein nahezu freischwebender Teller, direkt unter dem Schild, auf dem einmal der Name des Flusses gestanden hat und der längst mit dem Namen der Stadt überschrieben wurde. Styx steht da nun verheißungsvoll, und wer sich in den Schatten der Brücke begibt, merkt schnell, dass der Name Programm ist. Nichtsdestotrotz scheint sich der Kasten hier wohlzufühlen, so wie er sich schamlos im Brückenschatten in das Stadtbild einzugliedern versucht, was ihm mit seinen eigenwilligen Auspuffskonstruktionen mühelos gelingt. Die vier Kastenwesen haben damit mehr Probleme. Das Ödland liegt hinter ihnen, aber die Sonne hat ihre Zeichen hinterlassen. Hier, in dieser Antistadt, die sich vom Licht abgewendet hat, ist Kili, Phil, Stefan und dem Lukas die Aufmerksamkeit der Unterweltbewohner gewiss. Die Straßen hier sind unbefahr- und unkartographierbar, näher verwandt mit Hak Nam, der ehemaligen Walled City Hongkongs, als irgendeiner anderen deutschen Stadt. Statt Straßenschildern gibt es hier Paranoia und Klaustrophobie. Genug von beidem, dass Stefan sein Schwert mit auf den Trip genommen hat, womit er sich selbst sicherer fühlt und – nach wie vor weit entfernt von einer Auflösung seines Reluctant Warrior Plots – jeden anderen an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. „Alter Freund“ schön und gut, er selbst kennt diesen Felix nicht, aber dafür weiß er, dass Begriffe wie Freundschaft, Familie oder Loyalität seit dem Großen Knall etwas … diffus geworden sind. Und Vorsicht hat noch niemanden umgebracht.

Sie sind auf der Suche nach Antworten und welcher Ort würde sich dafür besser eignen, als eine Stadt, die selbst als Antwort entstanden ist. Als nach dem Großen Knall die Notstandsregierung von Aschaffenburg die Mainbrücke dichtmachen ließ, erst zum Schutz und dann wegen dem Zoll, dauerte es nicht lange, bis die unterschiedlichen Reisenden, die auf die Brücke angewiesen waren, all die Flüchtlinge, Händler, Schmuggler, Plünderer und sonstigen Halunken, die passende Antwort parat hatten. Und dann, als die Regierung auf einmal am Boden war und die Godelsberger Handelsgilde sich anschickte, Blut in den Dalberger Tavernen auszuschenken, als in Leider die Waffenflut einsetzte – Vorderlader, Six Shooter, modifizierte Gaspistolen, ja, sogar druckluftverstärkte Blasrohre – und in Damm … „the less is said about Damm the better“, ja, da begann man darüber nachzudenken, die Brücke vorübergehend für geschlossen zu erklären. Ursprünglich als Raststation geplant, wuchs im Schatten der Brücke ein Geschwür heran, dass in kürzester Zeit in einer eigenen Gesellschaft aufgehen sollte. Aus einem Haus wurden zwei, aus zweien ein kleines Dorf, dicht an die Brückenpfeiler gebaut und durch Laufstege vernetzt, dann kam der erste Parkplatz, weitere Behelfspfeiler, um die ganze Konstruktion zu stützen, man baute weiter in die Tiefe, statt in die Höhe; Styx wurde mehr als eine klassische Unterstadt, eine Brutstätte für alternative Lebensumstände und Traditionen. Kinder leinen hier ihre Bälle an, wenn sie auf den Hausdächern spielen und es heißt, einer der Stadtgründer hätte seine Wohnung tatsächlich falschherum gebaut, kein Witz, sodass man sie nur mithilfe eines speziellen Harnischs betreten kann – seiner Aussage nach nicht nur der perfekte Schutz vor Einbrechern, sondern auch die perfekte Lebensweise für Afficionados langer Haare, die man so stets offen tragen kann, ohne dass sie im Mundwinkel hängen bleiben … heute sitzen Angler auf den untersten Stegen der Stadt und betrachten den Sonnenuntergang mit einer Ruhe, die aus der Ewigkeit zu stammen scheint und tatsächlich fragt man sich bei diesem Anblick, ob Styx nicht tatsächlich schon immer dagewesen ist, diese Welt zwischen den Ufern, die all die Zeiten vielleicht nur auf diesen Großen Knall gewartet hat, um aus ihrer zwischenweltlichen Existenz wieder aufzusteigen und ihren rechtmäßigen Platz in dieser Welt einzunehmen.

Wenn man den Geschichten Glauben schenken mag, führt die Suche nach dem King, einem enigmatischen Programm, das kurz vor dem Großen Knall aktiv gewesen sein soll, direkt nach Styx. Der King, so heißt es, soll Unmengen von Informationen aus dem Netz gesaugt und an einen spezifischen, sicheren Ort gesendet haben. Angeblich soviel, dass dort am Ende der Zeiten mehr Informationen gespeichert gewesen sein sollen, als in ganz Langley. Die Suche führt durch lichtscheue Gassen, in denen ein Cellospieler eine flüchtige Melodie jagt, zu einem jener berüchtigten Nachtclubs, wie es sie einmal in New Orleans gegeben haben mag: Ein schnoddriger Schuppen namens The Turned Trumpet, mit einer Trompete, die als Köder von einer Fischerleine hängt, auf dem Schild über der Tür und einer stilvollen Gaststube samt Bühne, die zum Wasser hin geöffnet ist, was sich für manchen Gast und Pseudovirtuosen als unbequeme Alternative zum Ausgang entpuppt hat.

In diesem Sammelbecken für zwielichtige Geschäfte treffen die Kastenwesen nun also auf Felix, ein nicht minder verschrobener Teil des Inventars, dessen Ritzereien in den verschiedenen Bänken, Tischen und Stühlen mittlerweile eine eigene Continuity ergeben, und der Lukas, Kili und Phil mit einer komplizierten Reihung von Handschlägen, Minimalgesichtszuckungen und Joints begrüßt.

“Sorry Folks, aber das mit dem King wird wohl nichts. Die Sache ist etwas komplizierter, als man euch erklärt hat.”

Der King, weiß Felix zu elaborieren, während sein Schnitzmesser den Kanälen, Gravuren und Musterungen auf den Tischen folgt, geht ursprünglich viel weiter zurück, als gedacht. Ein Teil des Codes stammt noch aus dem russischen Projekt Guckkasten, eine nicht minder mysteriöse Einrichtung, die dazu gedacht war, alles zu sehen, kurz vor ’89 jedoch eingestampft wurde. Hackermythen wissen jedoch zu berichten, dass das Projekt in Form eines Rogue Programs weiterentwickelt wurde, das jedoch schon seit den Tagen ARPAs existieren soll und sich seitdem in den schattigsten Strukturen irgendeines Servers versteckt, wo es sich an der Informationsüberflutung sattfrisst, die durch die Ethernet-Kanäle gepumpt wird, und in seiner überflüssigen, algorithmischen Existenz aufgeht, jeden Tag mehr, bis eines Tages, mit einem Großen Knall, alles auf einmal aufhört. Was geschah mit dem King? Sitzt er immer noch auf irgendeiner archaischen Festplatte, für immer getrennt vom Großen Datenfluss, der so plötzlich aufhörte, zu existieren? Oder schaffte er es irgendwie, aus dem Binären zu transzendieren, seinen eigenen Initiationsritus zu finden, geöffnet durch das kombinierte Wissen unzählbarer Mengen von Terabytes, all der Daten, aus der wir unsere Welt konstruierten und vielleicht genug, um eine eigene Welt zu erschaffen …

Den King zu finden, schließt Felix, während sein Blick und sein Messer nachlässig dem Liniengeflecht nachwandert, das Kili irgendwie an diese Nasca-Wüstenbilder erinnert und Phil an einen Computerchip, den King zu finden sei mittlerweile genauso schwierig wie die Frage, was zuerst dagewesen ist, der König oder das Volk, was hingegen nichts weiter ist als ein Vorwand für die Frage nach der Funktion des Ganzen. Wenn der King nicht mehr gefunden werden kann, ist dies dann gleichbedeutend mit seinem Ende? Wie kann etwas überhaupt existieren, als Sammler von Informationen, wenn es selbst nur aus Informationen besteht?

„Ja, ne, ist klar, auf ne Frage kommt natürlich ne Gegenfrage, bloß dass es eigentlich natürlich gar keine Frage ist, sondern die Antwort, wenn auch versteckt, und darum geht es wirklich … von wegen Existenzfrage, das ganz rationale Prinzip des Versteckens steht hier im Mittelpunkt, und das ist ja ganz klar …“, schiebt Phil seine Gedanken zurecht. Vor Lukas kreisen schemenhafte Assoziations-Wolken um irgendeine konturlose Beobachtung, sie hat etwas mit dem Ende von „The Usual Suspects“ zu tun, irgendetwas mit diesen Schnitzereien. Doch bevor die Idee Gestalt bekommen kann, verliert sie ihre Konturen, verliert sie sich selbst in den vorbeiziehenden Rauchwolken des beeindruckenden Joints, den Felix ihm vielsagend lächelnd in die Hand drückt.

Damit steht Felix auf und verlässt die Turned Trumpet, dieses leise Lied auf den Lippen, das die ganze Stadt durchströmt und mehr, das seit ewigen Zeiten bereits im Strömen des Flusses verankert liegt, diesem Fluss, losgelöst von der Zeit, der nur ab und an an die Oberfläche dieser Welt tritt wenn die Sonne am Horizont versinkt und das Zwielicht die Herrschaft übernimmt.


I gave them lands and laws and peace
gave them a world in which all these
songs and plays and tales were born
free of anguish or disease

made atoms, quarks and neutrons, strings
molecules and darker things
for them to build their thrones and crowns
a world in need to think of kings

I build this world in which they made
me their king
of everything

It’s not quite time for laying low
but start anew another show
that might remind you of a life
I invented years ago

to leave old castles far behind
cross kingdoms, rivers, seas, to find
a shore that wasn’t there before
but to be found within my mind

I left this world for me to be
more than king
be everything

I build this world for them to make
me their king
of everything