Brief an die andere Seite

Liebe Vorausgegangenen,

ich bin gerade einem von euch begegnet am Flussufer. Und gestern habe ich mit einem von euch telefoniert! Das war sehr aufregend, ich fühle mich wie ein ganz neuer Mensch. Bei allem, was man in den Medien gerade verfolgen kann, ist von euch doch nie die Rede. Ihr versteckt euch noch im toten Winkel der Diskurse und plant eure glorreiche Rückkehr ins Licht der Weltöffentlichkeit. Wir sprechen alle unentwegt darüber, wie die nächsten Wochen aussehen könnten, in Isolation und Quarantäne, vielleicht Monate, vielleicht sogar länger. Aber über euch sprechen wir doch nie. Ein Versäumnis! Ich möchte der erste eurer Jünger*innen sein, der eure Kunde singt! Ich möchte mich vorbereiten. Es würde mich ganz unvorbereitet treffen, plötzlich zu euch gezählt zu werden, wenn es mich irgendwann trifft. Habt ihr euch schon gefasst? Wisst ihr schon mehr? Könnt ihr schon über euch sprechen?

Nach allem was wir wissen, ist dieser ganze Spuk nun schon wieder vorbei für euch, wo es für den Rest der Welt erst los geht. Nach allem was wir wissen, seid ihr nun immun. Und könnt auch nichts mehr übertragen. Sagt zumindest Herr Drosten, gewiss ein Evangelist eurer kommenden Zeit. Nach allem was wir wissen, seid ihr nun in eurer ganz eigenen Welt. Wahrscheinlich fühlt ihr euch nun auch etwas einsam? Aber ihr werdet ja täglich mehr. Jede Woche spült es eine Handvoll von uns an den Strand, und sie erwachen als einer von euch. Je besser wir das alles handhaben auf unserer Seite, desto länger wird es dauern, aber eure Zahl wird stetig wachsen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch schon in ein, zwei Wochen wieder treffen, zusammen sein, euch alle in den Armen liegen. Alle neuen Regeln der Welt gelten dann nicht mehr für euch.

Werdet ihr euch zunächst nur untereinander sehen in eurer exklusiven Loge? Endlich die Corona-Partys feiern, die euch dann erlaubt sind? Führt ihr euer positives Testergebnis mit Datumsstempel immer mit euch, lasst ihr es euch auf ein T-Shirt drucken? Wird die Polizei verstehen, dass sie für euch nicht mehr zuständig ist? Wird man für euch ein neues Tinder-Icon einreichten, das euch in den ausgedünnten Pool der sorgenfreien Singles zurücklässt, wo sich alle lieben und tanzen und einander unentwegt berühren?

Oder schaut ihr wieder auf unserer Seite vorbei, wo wir euch nun nichts mehr anhaben können? Macht ihr eine große Deutschland-Tournee durch alle leer gefegten Städte und verbarrikadierten Wohnungen, um überall einzuschlagen wie Engel der Verkündigung, die das Glück und die Liebe einer nachfolgenden Zeit erahnen lassen und dabei unentwegt lachen?

Oder bleibt ihr noch unerkannt, aus Solidarität, aus Bescheidenheit oder aus Angst vor Missgunst? Wandelt ihr unerkannt unter uns, gehüllt in einen schützenden Mantel aus zwei Meter Distanz? Beobachtet ihr uns, um im entscheidenden Moment die Maske von euch zu reißen? Werdet ihr das Elitekommando in den Altersheimen und Krankenhäusern, die Prätorianergarde, die dritte Reihe der Römischen Legion, die niemals fallen kann?

Fragen über Fragen.
Bei all den düsteren Gedanken gerade leuchten sie uns aber wie ein Licht voraus:
ihr seid wenige, aber ihr seid unter uns, und ihr werdet täglich mehr,
ihr sexy Premiummenschen!

-Lukas

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