Zerrieben zwischen Freeze Frames und Fast Forwards: Just like a Different Movie?

Die letzte große, und vermutlich auch einzige Referenz unserer Generation für eine globale Zäsur, eine geteilte, länderübergreifende gemeinsame Geschichte, war immer 9/11. Die ganze Welt zur gleichen Zeit an den Fernsehschirmen, alle auf das selbe Ereignis fokussiert, nachdem angeblich “nie wieder etwas so sein wird wie zuvor”. Und das, obwohl die tatsächliche Betroffenheit aller TV-Traumatisierten lange Zeit erstmal gar nicht gegeben war. Abgesehen von einigen zehntausend Menschen auf der Insel Manhattan war 9/11 zunächst ein reines Medienereignis, wie die 9/11-Geschichtsshreibung nicht müde wird zu betonen. Und was sie auch immer wieder sagt: so viele Menschen griffen immer wieder zu der Formulierung “It was just like a Movie”, um den Tag und ihre Erfahrungen einzuordnen. Zu ähnlich waren die Bilder zu bekannten fiktionalen Katastrophenfilmen, um der Realität nicht zu trauen. Ein Vergleich zur gegenwärtigen Situation ist ganz müßig und sinnlos, auch wenn er sicher immer wieder angestellt werden wird. Ich möchte das auch tun, aus ganz und gar therapeutischen Gründen; weil es mir selbst hilft, meine Erfahrungen einzuordnen, indem ich sie vor dem beruhigend durchnarrativierten und durchstrukturierten Erfahrungen zu 9/11 einordne.

Einerseits ist die persönliche Betroffenheit gerade sicher um ein unvorstellbares Maß größer. Heute, also am Donnerstag den 19. März 2020, ist tatsächlich “nichts mehr wie zuvor”. Tatsächlich ist ja beinahe im Tagesrhythmus heute nichts mehr wie gestern und gestern nichts mehr wie vorgestern, so schnell überschlagen sich gerade die Infektionszahlen und die verzweifelten Reaktionen, Maßnahmen und Einschränkungen. Gleichzeitig sind die tatsächlichen Folgen des Virus für uns derzeit noch viel abstrakter und virtueller: es gibt keine einstürzenden Gebäude, wir haben noch keine Wellen an Toten zu verzeichnen in Deutschland, und erst langsam zählen Bekannte von Bekannten zu tatsächlichen Corona-Infizierten. Die Innenstädte und Parks sind etwas leerer als sonst, aber in Anbetracht der Umstände längst nicht leer genug. Stay the fuck at home! Ein Virus ist erstmal zu klein und zu unsichtbar, um dramatische Bilder abzugeben, und die immer gleichen Computerillustrationen von Covid-19, eine bunte Kugel mit lustigen Cocktailschirmchen und Trompeten-Spickern, erscheint dem Ernst der Lage völlig unangemessen und beinahe komisch. Wenn man morgens aufwacht oder kurz seinen Gedanken nachhängt, kann man leicht vergessen, dass der Planet Erde – und unsere realen Lebensgeschichten und Biographien – vor etwa einer Woche in ein Paralleluniversum abgebogen sind, das man nur aus Science Fiction-Filmen und Genreliteratur kannte. Ich erschrecke dann immer ein bisschen, wenn mir wieder schlagartig einfällt, dass nichts mehr gilt, was die letzten 36 Jahre meines Lebens relativ unumstößlich oder “alternativlos” war. Die Story, in der wir uns gerade befinden, kenne ich auch hauptsächlich aus dem Kino. Aber anders als bei 9/11 und den Katastrophenfilmen sind das nun nicht einmal Narrative, die je den Anschein erweckt haben, “realistisch” sein zu wollen. Eine globale Pandemie. Das ist reines, phantastisches Genre-Kino. Zu welchen Figuren und Protagonist*innen macht das uns?

Sind wir überhaupt Protagonist*innen? Oder nicht immer noch bloß Zuschauende? Sicher nicht letzteres, möchte man einwenden! Wer an der Wirklichkeit unserer Beteiligung zweifelt, der muss nur aktuelle Bilder aus italienischen Krankenhäusern anschauen. Aber irgendwie ist es merkwürdig schwer, diese in der gleichen “Storyworld” unterzubringen, in die auch wir gerade interniert wurden; ebenso wie “China” seit vielen Monaten einfach eine merkwürdige Fernseheserie im öffentlichen Bewusstsein blieb. Und das ist natürlich Teil des Problems: obwohl sich eine globale Geschichte entspinnt, in der wenig weniger Bedeutung hat als Landesgrenzen, fehlt einfach die kognitive Übung darin, dies emotional anzuerkennen. Es gibt also eine ganz andere Hinsicht, in der sich der Alltag gerade “just like a Movie” anfühlt. Das ist die seltsame Distanziertheit, mit der man diese Live-Ticker, Robert-Koch-Interviews und Kanzlerinnen-Ansprachen gerade verfolgt und sich dabei merkwürdig gelähmt fühlt, fast schon apathisch. Das ist sicher keine Unbetroffenheit, denn es gelten ja kaum noch Regeln der alltäglichen Lebensbewältigung von früher, also: von letzter Woche. Was ist es dann? Es hat sicher etwas mit Relevanzverlagerungen zu tun, mit geteilten Narrativen, aber vor Allem mit einer ganz neuen Erfahrung von Zeitlichkeit, die uns zwischen Freeze Frames und Fast Forwards zerreibt.

Nichts von dem, womit ich meinen Tag vom Aufstehen bis zum Einschlafen fülle, erscheint mir sonderlich wichtig. Es gibt To Do’s, es gibt Home Office, aber es ist schwer, dem sonderliche Bedetutung beizumessen. Es ändert sich auch nicht viel von heute auf morgen. Viele Projekte und Aufgaben sind ganz weggebrochen, andere ausgebremst. Die viel beschworene Zwangs-Entschleunigung, die große, globale Pause-Taste, die noch auf viele Wochen und Monate alles einfrieren wird, was noch vor Kurzem durch den Terminkalender galoppiert ist. Zugleich aber, während in meinem Leben, in meiner Biographie, die Zeit eingefroren scheint, überschlagen sich die geteilten, bundesweiten und globalen Ereignisse mit rasender Geschwindigkeit. Heute ist nichts mehr wie gestern. Vielleicht ist morgen schon Ausgangssperre. Die Geschwindigkeit der Veränderungen ist so gewaltig, dass wir alle keine realistische Prognose mehr abgeben können, was in zwei Wochen (das sind: 14 Tage) sein wird oder gelten wird.

Diese beiden unterschiedlichen Zeitspuren, zwischen denen wir alle eingeklemmt sind – ein umfassender Freeze im Alttag bei gleichzeitigem globalen Zeitraffer – verteilen sich interessanterweise exakt auf die Differenz vom Privaten zum gesellschaftlich Geteilten. Alles, was gerade wichtig ist, teile ich plötzlich mit allen Freunden und Bekannten in München, Berlin oder Hamburg. Es gibt derzeit keine divergierende Gesprächsthemen. Und zugleich können wir dieser sich viel zu langsam und viel zu schnell entfaltenden Geschichte nur medial zusehen, über Monitore und Nachrichtensendungen folgen. Wir sind, in einer relativ referenzlosen Weise, zu Zuschauerinnen und Zuschauern eines gemeinsamen, globalen Narrativs geworden, auf das wir selbst kaum Einfluss haben. Noch ist das alles kein interaktives Videospiel, sondern ein recht spektakulär produzierter Film mit vielen Transmedia-Erweiterungen. Unsere eigene Rolle darin ist völlig unerheblich. Die vielen Versuche, im Minutentakt zu kommentieren, zu bloggen, zu twittern, oder Artikel wie diesen hier zu verfassen, erscheinen mir dann fast wie hilflose Bemühungen, sich einzubringen, einzuschreiben, eigene Rollen zurück zu erhalten: Das ist auch *meine* Geschichte, ich gehöre *wirklich* dazu, ich bin nicht nur eine zuschauende Person. Und doch, egal was wir tun, unsere persönlichen Narrative fallen immer wieder zurück in die Ebene des bedeutungslosen Stillstands, wo die Zeit einfach anders und langsamer verläuft als in der Hyperbeschleunigung der globalen Ereignisse, die wir weiter nur betrachten können. Just like in a movie; aber ein ganz anderer als 2001.

Damals wurden wir von einem Schock sensationeller, weltweiter Gleichzeitigkeit erschüttert. Heute entgleiten die medial vermittelten Bilder in ihre ganz eigene Realität, die man kaum noch mit der eigenen Zeiterfahrung in Einklang bringen kann. Damals drohte uns womöglich, die Realität mit Fiktion zu verwechseln. Hier und heute, so habe ich das Gefühl, sind wir einfach aus der Realität herausgefallen und sie macht ohne uns weiter – oder umgekehrt. Die Kluft zwischen den Zeitspuren ist einfach zu groß. Aber auch das ändert sich sicher wieder, morgen, übermorgen oder irgendwann, wenn das alles nicht mehr gilt.

-Lukas

This entry was posted in Textliches and tagged . Bookmark the permalink.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *