Die Anklage in Sachen Hainz, dem Hai

Nachdem nun schon verschiedentlich die Entführung unseres Bibliothekars der skurrilen Bibliothek, Hainz dem Hai, zum Thema wurde – und ich gar selbst Opfer von Anschuldigungen wurde – musste ich mich nun auch einmal zu dem Ganzen äußern…!

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Die Anklage in Sachen Hainz, dem Hai

Eine dokumentarische Rachetragödie

PERSONEN

Sandra – Widerstandskämpferin
Nina – Stimme der Vernunft
Lukas – Frohnatur und Lebemann
Andi – Weintrinker und Stockwerkssprecher
AndererStefan – Mephistophelische Gestalt
TomTom – Wissenschaftlicher Berater
Boris Palmer – Oberbürgermeister von Tübingen
Der mythische Hainz – legendärer Bibliothekar
Der sozialpsychologische Hainz – benachteiligter Bibliothekar

Theaterfreund
Kenner

Spielende Kinder, unbestimmte Menge

PROLOG VOR DEM THEATER

Theaterfreund:
Es geht wohl auch um Leben und Tod!

Kenner:
Das muss kein Zeichen von Qualität sein – eher im Gegenteil!

Theaterfreund:
Ich habe mir zuvor überlegt, in ein Buch hinein zu lesen: “Über den Sinn und Unsinn des Dokumentartheaters”!

Kenner:
Vom Kasauske?

Theaterfreund:
Ich hatte es dann doch nie in der Hand.

Kenner:
Aber man kann wohl sagen: Es sollen gewichtige Themen
verhandelt werden!

Theaterfreund:
Um Leben und Tod geht es! Das habe ich nun schon mehrfach gehört!

Kenner:
Im Programmheft kündigen sie an: “Die Anklage in Sachen Hainz, dem Hai – Eine Rachetragödie, in welcher die Beteiligten ihre eigenen Erlebnisse verarbeiten und schlussendlich klären werden, was aus dem entführten Bibliothekar der skurilen
Bibliothek wurde.”

Theaterfreund:
Also, ich finde den Titel unglücklich gewählt – zu lang.
Ich habe nach “in welcher” schon nicht mehr weiter gelesen.

Kenner:
Doch, mein Interesse ist geweckt. Nun, gleich wird es beginnen.
Fassen wir uns.

Theaterfreund:
Eine Frage noch: Ist das denn mit Reimen?

Kenner:
Ja, aber man merkt es wohl kaum

SZENE 1

(Vorhang hebt sich. Die Breuninstraße. Sie ist durch kärgliche
Bühnengemälde angedeutet.Im Hintergrund der Szene spielen frohe Kinder Ball.
Sandra und TomTom kleben Flugzettel an kleine Holzpfosten, welche Hauseingänge darstellen sollen.)

Sandra:
Hört her, ihr Kinder, jung seid ihr an Jahren
schnell und unbegreiflich flieht die Zeit
an einem Tag noch wähnt man, sie zu wahren
entweicht am andern / doch schon ihr Geleit
So sollt ihr alle es von mir erfahren
wo ich, wie es das hohe Brauchtum allmals will,
den Bericht des Boten bringe
und was geschehen ist besinge.

Die Sonne tönt nach alter Weise
in Brudersphären Wettgesang,
und ihre vorgeschriebne Reise
vollendet sie mit Donnergang
Einst kannten wir den größten Bibliothekaren
einst kannten wir den Hainz / er war uns lieb
doch kaum ein halber Mond ist’s her, ihr Kinder,
Da raubten ihn die übelsten Barbaren
für Lösegeld,
wie ich es euch beschrieb!

TomTom:
Muss ich nun auch in Reimen sprechen?

Sandra:
So will’s der Brauch.

TomTom:
Von mir denn auch?

Sandra:
Er hat auch seine Schwächen…!

TomTom:
Ich hab keinen schönen Text bekommen
Was soll ich da jetzt machen!

Sandra:
Der Text kommt aus dem Herzen,
und niemals aus dem Rachen!
Sag einfach, was immer dich beweget
und siehe, siehe!
Wie sich der Jambus dazu reget!

TomTom:
Ich sorge mich um Hainz!

Sandra:
Dies Schickal ist auch meins!
Manchmal wein’ ich, wenn die Worte
still in meiner Kehle stehn
doch ich lernt’ an meinem Orte
schweigend mit dem umzugehn
Halb aus Hoffnung, Not und Sorgen
soll dies Papier nun für uns flehen:
von jeder Haustür, jeder Pforte:
“Habt ihr unser’n Hai gesehen?”
Wir werden euch finden
wir werden euch fassen
wir werden uns rächen
und Hainz frei entlassen!

TomTom:
Vielleicht sollte man die Vorgeschichte noch etwas erkären?
Weil, wer Hainz jetzt nicht kennt,
dem wird sich der Sinn des Ganzen
eher verwehren?

Sandra:
Ein schöner Gedanke!

Ich bin allhier erst kurze Zeit
doch folge voll Ergebenheit
der Erzählung Blick mit Freude
zurück in jenes Heimgebäude
bevor es trat auf seinen Weg
zur würdevoll’ Bibliotek!

TomTom:
Bevor Hainz damals hergezogen!
– Der Rest ist ziemlich frei erlogen.

Sandra:
(wendet sich an die spielenden Kinder)
Folgt uns, Kinder, auf den Wogen,
des Berichts und seiner Kreise
zurück in jene alten Tage
vor Hainz’ langer, dunkler Reise
Folgt uns, als noch Glück uns schien.!

(Kinder jubeln, rennen aus dem Bild)
(Vorhang fällt)

ZWISCHENSPIEL 1

Theaterfreund:
Steht im Programmheft etwas über die Realitätsnähe des
Gezeigten?

Kenner:
Man informiert sich zuvor.
Im Übrigen liegt die Dringlichkeit der Thematik nicht alleine in der Referenz!

Theatefreund:
Mir ging das zu schnell.
Wenn der Hai also entführt wurde, warum dann Flugblätter?
Was haben denn die Nachbarn damit zu tun?
Warum zahlen sie nicht einfach das Lösegeld?

Kenner:
Es handelt sich um einen archaischen Konflikt, der nur
vordergründig an eine bestimmte Szenographie gebunden ist.
Das wiederkehrende Motiv der Sonne etwa verweist klar auf etwas Zyklisches.
Der Hai steht offensichtlich auch für einen verdrängten oder gar räuberischen Aspekt der Menschenseele.

Theaterfreund:
Aha.
Das ist mir tatsächlich entgangen.
Jetzt kommt also ein Zeitsprung zurück?

Kenner:
Die folgene Szene trägt den Titel: “In welcher wir einen Blick zurück werfen und den frohen Anfängen einer wunderbaren Freundschaft gedenken.”

SZENE 2

(Der trocken gelegte Anlagensee, im Winter. Lukas sitzt am Bühnenrand, trägt einen schwarzen Mantel und sinniert.
Herbstlaub liegt auf dem Boden. An der hinteren Wand der Bühne ist der projizierte Schatten eines Hais zu erkennen, der über einem
aufgeschlagenen Buch sitzt)

Lukas:
Ich weiß es noch / es war in einem Frühjahr
ich war recht neu / allein in dieser fremden Stadt
die Schritte trugen mich / ich weiß, dass mir voll Müh war
da sah ich ihn / die Flossen schneidig
und seine Kiemen glatt

(Boris Palmer tritt auf)

Boris Palmer:
Er saß an dieser Ufer Saum in jenen Tagen
und laß ein Werk / mir schien es doch obskur
Doch als der Boris / tat ich Großes wagen
und hieß willkommen auch dieses Stück Natur

Lukas:
Wir sprachen lange
Boris, ich, und Heinz, der gute Hai
wir sprachen über mancherlei Belange,
die Liebe, Preußen und auch Tyrannei
manch Rührungsträne fiel von Hainzens Wange

Boris Palmer:
Der Hai hier, dacht ich / der hat vielerlei gesehen
der sah ins Aug’ / manch großem Dichterwort
behalt ihn hier, dacht ich /
vielleicht sollt man erst einmal einen drehen
ich darf das nicht / doch seh ich gerne fort

Lukas:
Jedoch, der Boris wurd mir indess lästig
drängt sich gar zwischen jeden geistreich’ Witz
der Hai hat derer reichlich und recht mächtig
war seiner Bildung ewiger Besitz

Boris Palmer:
Nun gut, ich sah schon / hier war nichts zu machen
erfüllt auch meiner Ämter hohe Pflicht
der Mann mit Hut, dacht ich / der redet schräge Sachen
der wird dem Hai ein Freund / und ich,
ich werd es nicht

(Boris Palmer geht ab)

Lukas:
So kam’s, dass früh in jenen Sommers Strahlen
ich Hainz den Hai / zum Freund mir ewiglich gewann
der Boris ränkelt sich mit seinen Kommunalen
da war’n wir schon ein wunderlich’ Gespann

(Lukas wendet sich an die Zuschauenden)

doch heute, da klagen sie mich an

(Vorhang fällt)

ZWISCHENSPIEL 2

Theaterfreund:
Das hat mir gut gefallen! Man konnte sich hineinversetzen!

Kenner:
Diese politischen Aspekte schienen mir aber sehr halbherzig und etwas skizzenhaft.

Theaterfreund:
So etwas wird mir leicht zu abstrakt.
Sie lernen das Theater nun an ihren Schulen und in Vorlesungssälen.
Auch der Autor dieser Zeilen ist einer jener Bande!

Kenner:
Die Schuld trägt nicht die Bühne. Ist nicht die Welt selbst
eine Allegorie, deren Sinn uneinholbar bleibt!?

Theaterfreund:
Das erschließt sich mir nicht.
Sie schreiben ihre Stücke für die Akademien!
Ich will lachen! Ich will Bangen!
Ich will Tränen auf den Wangen!

Kenner:
Die nächste Szene scheint hingegen eher am Absurden Theater angelehnt: “Eine Begebenheit in Wiesbaden. In welcher der sozial-psychologische Hainz und der mythische Hainz sich dem Zuschauer in Form eines inneren Monologes öffnen.”

Theaterfreund:
Hier steht, dass nun auch Nina auftritt.
Das tät’ mir gut gefallen.
Sie nennt die Dinge oft beim Namen.

Kenner:
Ich bleibe skeptisch.

Theaterfreund:
Ich hole uns noch ein paar Häppchen vom Buffet.

SZENE 3

(Der Bühnenraum ist ungeschmückt und leer. An der Wand ist ein liebloses Grafitti angebracht. Man kann es nicht entziffern. In der Mitte des Raumes steht eine große Kiste. Über dem Bühnenraum hängt ein Schild mit einem Pfeil, der nach unten zeigt. Auf dem Schild steht in großen Lettern: WIESBADEN. An der Seite des Bühnenraums hängt ein zweites Schild, mit einem ebensolchen Pfeil. Auf ihm steht: FERN VON WIESBADEN. Unter diesem Schild sitzt regungslos Nina auf einer Holzbank. Sie scheint nichts zu vernehmen. Der mythische Hainz tritt mit einem schweren Folianten auf und kommt zur Bühnenmitte)

Mythischer Hainz:
Nennt mich Hainz
mit einem A
stolzen Vaters Sohn
und Schrecken junger Mütter
ich spreche oft in Prosa
Bekannt in Steinlach, Neckar
und gar abwärts, längs des Rheins
ich war ein Jäger
verfolgte Nietzsche, Kant und Proust
ja:
Ich laß Spinoza!
Nun steh ich hier und spreche
allegorisch
in diesem Possenstück
ein Schatten meines Seins!

(Der sozialpsychologische Hainz tritt mit einer Dose 5,0er-Weizen auf und positioniert sich neben sein Gegenstück)

Sozialpsychologischer Hainz:
Nennt mich Hainz
mit einem A
Mein Vater
war ein Gerber
der Vater meiner Väter gar
zu Anbeginn der Zeit
hing Tag um Tag in seinem Nordseebett
und war er nicht besoffen,
so war er breit!
Ich war nie Bildungsbürger
die Lust
die Lust
sind Robben mir und:
Dorsch!
gut abgehagen, blutig, gern!
und auch ein kühles Weizen
ich hatt’s nie so mit großen Worten
war ganz Hai
war Zecher
lustig, aber forsch
der hohen Bildung blieb ich lieber fern

Mythischer Hainz:
Nennt mich Hainz
mit einem A
Vornehmster der Bibliothekaren
der Gilde, die / seit Jahr und Tag ein Schild
dem Volk gegen die Barbaren!

Skurril, gewiss, all meine Folianten
verblüffend, merklich, eigensam
voll Perlen, unbekannten
Und wer die Leihfrist überzog
dem wurde ich ein Alpgespenst
mit schrecklichem Gebaren
sie soll’n zum Teufel fahren!
und leihen nimmermehr!

Sozialpsychologischer Hainz:
In diesem Einen stimm ich zu,
da spuck ich in die Flosse!
der Posten dort, den mochte ich
auch als ein Kind der Gosse
Die Bände, die wir führten / die
laß ich mit heil’gem Schauder
nicht Tolstoi, Klopstock, Kierkegaard
wirkten diesen Zauber:
Das ‘Handbuch des Verbindungsmannes’
Um nur mal eins zu nennen
als Hai von Welt,
wie sag ich das…?!
das sollte man schon kennen!!

Mythischer Hainz:
‘Seelenreisen’! Welch ein Buch!
Erhaben! So vortrefflich!
Das ‘Märchenbuch mit Bussy Bär’!
Das war ein Werk, tatsächlich!

Sozialpsychologischer Hainz:
Die Katzen zu verstehen lehrt
jener Band! Welch Retter!
Mit Geistern sprechen dieser hier!
Flirts mit Donnerwetter!

Mythischer Hainz:
Groß war sie und stolz war sie
doch ihre Sonne sank

Sozialpsychologischer Hainz:
nie kam es zur Renovatur
und keiner Datenbank

Mythischer Hainz:
Aug, mein Aug, was sinkst Du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?

Sozialpsychologischer Hainz:
Weg Du Traum, so gold Du bist,
Lang schon warst Du mir vermisst

Mythischer Hainz:
Lang schon atmen Staub die stolzen/
Seiten, und ihr Ruf verhallt
wenn sie fallen, wer wird’s hören?
einsam wie der Baum im Wald

Sozialpsychologischer Hainz:
Nur ich, Hainz, ich hielt die Wache
blieb und tränkte Schmerz in Schnaps

Mythischer Hainz:
Was blieb mir noch als das Gedenken
jener Zeit vor dem Kollaps

(Mythischer Hainz und sozialpsychologischer Hainz fassen sich brüderlich an den Flossen, holen aus der Kiste verschiedene Gegenstände heraus und zeigen sie vor)

Sozialpsychologischer Hainz:
Dies war mein Schild!
Es warnt den Mensch vor ‘Sprengung’!

Mythischer Hainz:
Gewiss hat es Symbolgehalt:
Es steht für die Verdrängung
die jeden Geist in Schranken hält
bis er die Ketten niederreißt
und seines Kopfs Verengung
Für den steht dieser Hexenhut
mit einer spitzen Knülle
Denk skurill, so mahnt sie uns,
die Grenzen sind Dein Wille

Sozialpsychologischer Hainz:
Aha, hört hört,
woher nun dies Gesetz?!
Ich fand ihn hübsch,
den Hut, das Schild!
der Rest ist nur Geschwäzt

(Mythischer Hainz und sozialpsychologischer Hainz frieren ein. Nina erwacht aus ihrer Pose und tritt zum Bühnenrand)

Nina:
Geschwätz! Geschwätz!
Ein schönes Wort!
Für diesen ganzen Quark
Ich greif nun ein
und kürz es ab!
Das wird mir hier zu arg!

Diese ganze Szene hat
sich niemals so begeben
und: “Wiesbaden”?!
Ist das ein Scherz?!
Dort will doch keiner Leben!
Mag Andi es auch noch so oft
im Internet verbreiten!
Dort leb’ ich nicht,
Nie würd’ der Hainz
– auch keiner sonst! –
in dieses Drecksloch gleiten!

Mit dieser Art von Hirngespinst
will man doch nur vertuschen
was wirklich hier geschehen!
Schluss nun! Aus!
Wir werden nicht mehr kuschen!
Wir wollen Taten sehen!
Der Schuldige soll…
flehen!

(Der sozialpsychologische Hainz entlässt einen lauten Rülpser.
Vorhang fällt)

ZWISCHENSPIEL 3

Theaterfreund:
Hab ich es nicht gesagt? Nina nennt die Dinge beim Namen!
Das ist eine meiner Lieblingsfiguren!

Kenner:
Ich denke, mit ihrer Charakterisierung als “Figur” tut man Nina unrecht. Bachtin hätte vielleicht von der Polyglossie gesprochen: Der Text denkt sich selbst
– und bleibt sich doch stets äußerlich!
Ein Kennzeichen der literarischen Moderne!

Theaterfreund:
Muss das denn sein? Ich mag Figuren lieber, glaube ich.

Kenner:
Leider ja. Der Einflussangst der Neuzeit ist bestimmend.
So nimmt jeder Text seine eigene Kritik vorweg.

Theaterfreund:
In der nächsten Szene scheint es aber wieder konkreter zu werden: “In welcher Lukas W. endlich der Prozess gemacht wird und den Dingen auf den Grund gegangen werden soll.”

Kenner:
Dieses gewisse Konjunktivische sollte und misstrauisch machen.

 SZENE 5

(Die Küche der Breuningstraße 14, oben. In der Mitte des
Bühnenraumes steht ein knarziger, weiser Holztisch. Am Fensterbrett dahinter, das an der Bühnenwand unter einem aufgemalten Fenster angebracht ist, steht allerlei Gerümpel. An der Wand hängt ein überlebensgroßer Hammer.)

(Andi tritt auf. Er sitzt auf einem Floß aus leeren Wein und Whiskyflaschen, in einen altertümlichen Talar gehüllt)

Andi:
Schwer, das Schicksal meines Loses
inmitten meines Floßes Schoßes
kommt man, ruft man, fordert Großes
doch gefragt hat man mich nie

(Eine unbestimmte Menge tritt auf und ruft mit lauter Stimme)

Andi. Oh Andi. Wann holt man den Müll?
Andi. oh Andi. Das Kind der Nachbarn – zu laut!
Andi. Oh Andi. Leg den Schlüssel uns raus.
Andi. Oh Andi. Das Gras wurd geklaut.

Andi:
Der Müller mahlt, der Köhler brennt
der Schmied, er schlägt die Esse,
dem Brauer ist das Brauen Kunst
der Arzt, er heilt Abszesse
der Brunnen zieht sich Kresse
Nun seht mich an, auf meinem Floß:
Zum Popanz hat man mich gemacht
denn was ich soll ist: Sprechen!
Erst klang es gut: das konnt’ ich schon!
dann sollte sich das rächen.

Andi:
Ich bin Andi.
Ich lebe für Hiphop
Nun sitz ich hier und richte
tagein, tagaus, all den Belang
von diesem Volk, dem Gruppenzwang,
die täglichen Berichte
zu Sprechen (für und wider dies)
(und wieder für für jenes)

Zum Sprecher hat man mich gemacht
was bringt man mir wohl diese Nacht?

(Nina und Sandra treten auf.
Hinter sich führen sie Lukas in Eisenketten)

Nina:
Andi. Oh Andi. Du musst nun für uns sprechen

Sandra:
Andi. Oh Andi. Du musst uns nun hier rächen.

Andi:
Sagt ich’s nicht?
Dacht ich’s nicht?
Was liegt nun an?
Was drängt?

Sandra:
Ist schnell gesagt!

Nina:
Es geht um Hainz!

Sandra:
Und was daran noch hängt!

Andi:
Oha. So. Nun.
Das ist nur recht und billig.
Ich mach uns erst mal Tütensuppe
dann spricht es sich ganz chillig!

(Geht zum Holztisch und fängt an, geschäftig zu werkeln)

Nina:
Wir haben den Verdacht gefasst

Sandra:
Wie soll man das nun sagen?

Nina:
– Dass –

Sandra:
– Nun –

Nina:
seit vielen Wochen, Tagen
da wir nun schon in Sorge sind

Sandra:
ich meine fast: in Bangen!

Nina:
auch das, auch das, nun, kurz und gut,
Da Hainz, der Hai, schon nicht mehr hier…

Sandra:
…entführt ist er!
Das spricht man aus!

Nina:
…Entführt, entwendet, aus dem Haus…

Sandra:
… in all der Zeit nun: wer fiel auf?
Durch frohen Mut und Schweigen?

Nina:
Wer trank sein Bier und ging spät aus,
und pfiff so manchen Reigen?

Sandra:
Wer sprach von Comics, Rausch und Trunk,
wen hörte man nachts lachen?
“There Be Dragons”, immerfort,
und lauter solche Sachen?

Andi:
Jetzt wo ihr diese Frage so
in dieser Weise reimet
scheint mir, sie wär rhetorischer Natur,
die Antwort längst gekeimet.
Will jemand Tütesuppe?

Sandra:
Ich würd was nehmen.

Nina:
Ja doch, gern.

Sandra:
Dennoch aber, allemann!

Nina:
Es stimmt: zurück zum Kern!

Sandra:
Der Verdacht.

Nina:
Oh! der Verdacht!
Erstarkte und ersprosste

Sandra:
rankt über unsrer Herzen Heim!

(beide zeigen auf Lukas)

Nina:
Der weiß doch was und hält’s geheim
wir gehn ihm nimmer auf den Leim

Sandra:
Was immer es auch koste!

(Andi löffelt Tütensuppe)

Andi:
Also, Lukas, was hast Du zu sagen?

Sandra:
Du musst genauer fragen!

Nina:
Frag ihn nach Hainz!

Sandra:
Und bohre richtig nach!

Andi:
Gemach, gemach…
Also, Lukas, zum Thema Hainz!

Nina:
Jawohl!

Sandra:
Die Schuld!

Nina:
Sie steht ihm im Gesicht!

Andi:
Lukas,
sprichst Du nun?
Oder sprichst Du nicht?

(Im Hintergrund betritt eine vermummte Gestalt über die Bühne.
Unter der schwarzen Kutte ist eine auffällige, dreieckige Flossenform zu erkennen. Die Gestalt geht zum Fensterbrett, greift dahinter, und holt einen transparenten Sack voll grüner Kräuter hervor, wirft ihn sich über die Schulter und marschiert wieder davon. Die andere Figuren blicken kurz hin, zucken dann mit den Schultern und wenden sich wieder
einander zu)

Sandra:
Wer trauert denn? Um Hainz?

Nina:
Warum sind dies nur wir?

Sandra:
Als es geschah? Wo warst Du da?

Nina:
Es schrie gewiss, das arme Tier!

Sandra:
Und keine Hilfe kam von Dir!

Nina:
Andi! Oh Andi! Sprich für uns!

Sandra:
And! Oh Andi! nimm ihn ins Visier!

Lukas:
Also…Ich war da ja gar nicht hier!

Andi:
Oha. Das nennt man “Alibi”.
Ich hab davon gelesen!

Nina:
Moment, moment, nur nicht so schnell!
Wo war das denn gewesen?

Andi:
Ja stimmt, genau!
Wo war es denn?

Sandra:
Wo war denn was?
Der Lukas?
Oder Hainz?

Andi:
Das ist es doch! Nichts wissen wir!

Nina:
Dies Alibi ist Keins!

Sandra:
Louisa sagte neulich nachts, das hat mich tief bewogen
der Hainz kommt nimmer mehr, denn ihr,
ihr seid ihm nicht gewogen!
Wer wie dies Haus so wenig wagt
die Flossen ihm zu retten
verdient es, dass er weiterzieht
zu fremder Bücher Stätten!

Andi:
Ich sag mal so – wie sag ich’s nur?
was soll ich dauernd sagen…?!
Vielerlei ward schon gesagt!
Könnt ihr wen anders fragen?

Lukas:
(nachdenklich)
Was wir an gültigen Sätzen gefunden
war alles an irdischen Wandel gebunden!
Die Dinge sind lange nicht mehr zu durchschauen
wir sind doch der Text! Wem können wir trauen?

Andi:
(begeistert)
Da ist was dran! Da ist einiges dran!

(Ein lautes Musikstück setzt ein und von der Bühnendecke wird die Figur des Fröhlichen Hohepriesters am Seilzug herabgelassen. Wasserdampf wird aus mehreren Vorrichtunfen auf die Bühne geworfen. Als der Nebel sich verzieht, steht AndererStefan auf dem Tische, gekleidet wie ein fahrender Scholast.)

Andi:
Das also war des Priesters Kern!

AndererStefan:
Ich salutiere den gelehrten Herrn

Nina:
Wie nennst Du dich?

Lukas:
Die Frage scheint gemein,
für einen, der den Stefan schon so lange achte
Der doch so manchen guten Wein
und noch mehr Frohkraut
uns zum Wohlgefallen brachte

Andi:
Und, Stefan, wie geht’s so?

Nina:
Beim Stefan kann man doch das Wesen
gewöhnlich aus dem Namen lesen!

AndererStefan:
Also, wenn einer der Herren und Damen
jetzt einen Reim beginnt, der nämlich
endet mit “blablabla, wohin ich wandere”
dann tu ich euch den Spaß
und sag: “ich bin der Andere!”
Sonst ist mir das zu dämlich

Sandra:
Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?

Lukas:
Ganz klar:
So spricht ein Geist, der stets erscheint
wenn man mit Recht mal einen dreht
bevor das Bier zur Neige geht!
Drum besser wär’s, wenn ich entzünde
diese Tüte, die ihr Sünde,
Zerstörung, kurz: das Böse nennt,
des Stefans inner’s Element

(Geht zum Fensterbrett und fängt an nach Gras zu suchen)

Lukas:
…Jetzt muss man schon wieder das Gras hier vermissen…!

Andi:
Aber Stefan, gut das Du da bist,
wir haben uns da festgebissen
mit dieser Hai-Sache
Wird Zeit,
dass ich mich davon freimache

(AndererStefan zieht eine Tüte hervor, entzündet sie,
und gibt sie Lukas)

AndererStefan:
Wenns euch beliebt, so bin auch ich bereit
euch zur Gesellschaft hier zu bleiben
doch mit Bedingnis, euch die Zeit
mit meinen Künsten zu vertreiben.

Sandra:
Bitte, gern!

Andi:
Natürlich, immer, hochwillkommen!

Lukas:
Ich fühl mich jetzt schon ganz benommen!

AndererStefan:
Dann frisch ans Werk,
Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht,
mit solchen Schätzen kann ich dienen
ich hab noch Bier und Lukas ist schon dicht
Und Kräuter hab ich, die sich täglich neu begrünen
die Fragen, die euch alle bannten
die lös’ nicht ich, doch hilfreich soll mein Kanten
euch neuer Tore Spuren weisen
um Heinzens Pfade zu bereisen

Andi:
Top!

(Andi reicht Stefan die Hand, alle anderen tun es ihm nach)

Sandra:
Wenn die Zeilen und Verse und drolligen Reime

Nina:
unsre Fragen und Sorgen ersticken im Keime

Lukas:
Wenn die Szenen und Spiele im Kreise uns führen

Sandra:
sich selbst gar umkreisen, statt Hainz zu berüheren

Andi:
Arbeitet ihr jetzt zusammen? Das ist ja allerhand!

Nina:
Wenn die Texte hier in ein paar Seiten schon enden!

Lukas:
Müssen wir uns jetzt an den Zuschauer wenden!

Sandra:
Kommt alle herbei, fasst euch an den Händen

Andi:
Phantastisch! Was für ein Finale!

Nina, Lukas und Sandra:
Wir brechen hindurch! Schluss mit den Wänden

(Mit Getose und Lärm stürzt die Vierte Wand ein
Die Zuschauer fühlen sich ertappt)

Theaterfreund:
Oh. Das ist mir jetzt aber unangenehm.
Ich mag keine Mitmach-Stücke.

Kenner:
Nein nein. Keine Sorge. Das ist im Grunde konventionell.

Theaterfreund:
Aber müssen wir jetzt etwas tun?!

Kenner:
Im Grunde tut ja keiner etwas.
Der Text wird einfach weiter vorgetragen.

Theaterfreund:
Ganz geheuer ist mir das dennoch nicht.

Kenner:
Das gibt sich.

LETZTE SZENE

Kenner:
Alle sind wir nun hier versammelt!
Ein partizipatorischer Moment!
Die Entdeckung des Zuschauers!

Theaterfreund:
Moment!
In der ersten Szene war noch eine andere Figur mit dabei!

(TomTom tritt auf)

TomTom:
Guten Tag, bin ich hier recht?
(erblickt die Zuschauer)
Oh, hier fehlen ja die Wände?
egal, mir scheint, das ist gewollt
es naht ja auch das Ende!

Kenner:
Man fühlt sich auch durch diesen Bruch mit dem Reimschema, den wir hier unentwegt einbringen, in einer ganz anderen Ebene…

Theaterfreund:
Aber könnte noch jemand eine Ansage in Versform machen?
Da würde ich leichter reinkommen…

Lukas:
Nun sind wir alle hier beisammen
um inniglich zu lauschen
welch Ausgang dieses Drama nähm
Mit niemand würd ich tauschen!

Sandra:
Wer hat den Hainz denn nun entrissen?
Ist er gar von selbst gegangen?
ein jeder hier hätt wohl Motive
dieses ist mir nicht entgangen!

Andererstefan:
Nun bleibt es aber bei dem Pakt
den ihr mir mir besiegelt!
Die Zuschauer, sie richten das
was sich in uns nur spiegelt

Theaterfreund:
Ich habe mir nicht so viele Notizen gemacht, mir geht es immer eher um das Emotionale…!
Sandra weißt aber vielleicht unbeabsichtigt auf den Punkt hin, dass auch die Hegelstraßen-Wg nicht ganz unverdächtig ist.

Kenner:
Verdacht liegt, wo Bedarf besteht.

Theaterfreund:
Ein solcher Bibliothekar, der weckt gewiss Eifersucht!
Das Be mühen um Gerechtigkeit könnte auch Ablenkung sein!

Nina:
Könnt’ man nicht noch mal Boris fragen?
Der schien doch viel zu wissen?
Nur er fehlt hier, auch das, das stinkt!
spricht nicht für sein Gewissen!

Theaterfreund:
Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Boris Palmer hat Lukas seine Freundschaft mit Hainz ja nicht gerade gegönnt!

Kenner:
Ich möchte aber dennoch darauf bestehen, dass es sich nicht um eine Auflösung im klassischen Sinne handeln muss;
das Stück könnte auch eine poetologische Funktion haben!

Andi:
Als Andi, der für Hiphop lebt,
da möchte ich auch mal klagen,
mein Jambus eiert unentwegt
das macht mir kein Behagen

Theaterfreund:
Also mir haben die Reime gefallen! Ich bin mir sicher, Hainz hätte sie auch geschätzt! Man sollte die Textbücher dann in der skurilen Bibliothek auslegen!

Kenner:
Ein schöner Gedanke, der mich an einiges erinnert! Vielleicht könnten wir noch einmal kurz auf die Seite 16 zurückblättern! Da habe ich mir einiges angestrichen!

Theaterfreund:
Das Klagelied der beiden Heinz-Figuren…? Das ging mir mächtig an die Nieren!

Kenner:
Hatte diese Szene denn eine andere Funktion, als die
gravierenden Misstände im Bibliotheks-Managements zu kritisieren?

Theaterfreund:
Es könnte sich um eine Protestaktion gegenüber der
gegenwärtigen Bildungspolitik der Breuningstraße handeln;
der Tatsache, dass weder das versprochene Signaturensystem, noch ordentliche Benutzerausweise oder ein Katalog eingeführt wurden. Dafür spricht auch, dass Hainz anscheinend noch frei ein und aus geht und dauernd Gras mitgehen lässt…!

Kenner:
Das würde dem ganzen Stück allerdings seinen überzeitlichen Charakter nehmen und es auf instrumentalistischen Agitprop reduzieren: “Investiert mehr in skurrile Bildung, dann beendet Hainz auch seinen selbstgewählten Exilstreik!
Das wäre doch etwas flach.

Theaterfreund:
Aber ein versöhnliches Ende!

Kenner:
Wenn man derlei sucht…!

(So schließt sich denn dies Trauerspiel
mit vorwurfsvollem Raunen
aus tausend Seiten, all soviel,
mit Stimmen, wie Posaunen,
und ist ihr Wesen auch skurril
es macht den Menschen staunen.)

(Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
tragt sie empor ins strahlende Lichte
wir suchen noch immer die seltsamsten Ziele
drum ehret und pfleget! Denn unsrer sind viele!)

(Wo sich Horte der Bücher voll kruder Manieren
und Rausch, Jux und Jubel nobilitieren
dort ziehts ganz von selbst all jene Wesen
die gerne zu Dosenbier Seltsames lesen!
Auch Dokumentarisches hat seine Grenzen
nun legt den Prozess endlich hier bei
und freut euch und trinkt was und erst baut mal einen)

(gezeichnet:
– Hainz, der Hai)

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