BG – Kur

Kur- und Erholungsstadt BG. Das will ich ausprobieren. Goethe ging, hatte er Schnupfen, Husten oder sonstige Leiden nach Karlsbad und wandelte dort durch den von internationalen Gästen besuchten Kurpark. Doch wer besucht BG um hier zu wandeln?

Wie einst die hängenden Gärten der Semiramis in Babylon, schmiegt sich die Kurklinik, ein bewachsener Betonblock, in unzähligen Terrassen an den Berg. Das Zusammenspiel dieses Komplexes mit all den anderen Betonerholungsblocks der Umgebung wurde in den 70’ern wahrscheinlich als harmonisch empfunden. Verwaist ist wohl der falsche Ausdruck für diese Anlagen. Denn alles wartet auf Gäste. Die Lobby ist mit rosaroten Sofas vollgestellt. Im Frühstücksraum liegen ebenfalls rosa Deckchen auf den Tischchen. In den Vasen lila Kunstblumen. Im Schwimmbad alles geputzt. Die Liegen können jetzt besetzt werden. Doch wahrscheinlich wird in den nächsten zehn Jahren hier niemand schwimmen gehen. Der Komplex steht leer. Erst auf dem zweiten Blick spürt man, dass dieser Ort weniger Urlaubs- als Zombiefilmkulisse ist. Erste Birken sprengen die Außenmauern. Spinnennetze verschleiern den Blick durch die Fensterscheiben mehr und mehr. Das Schild, das auf den Parkplatz der Klinikärztin oder des Klinikarztes hinweist, hat sich aus dem Asphalt gelöst und ist umgekippt. Diese Stadt in der Stadt scheint ein Erholungsparadies für Gespenster zu sein. Auf der anderen Seite das Kulturhaus. Leer stehend. Der Frisiersalon, an dem Plakate prangen, mit Ladys drauf, die Helene-Fischer- bzw. Andrea-Berg-Perücken zu tragen scheinen, ebenfalls leer. Daneben ein schönes rotes Ziegelbauwerk. Bäderarchitektur. Erinnert an historische Kuranlagen der Ostseeküste. Das Cafè „Kolumbus“, das sich hier befindet, ist geschlossen.

Ich spaziere weiter auf dem Friedrich-Schröder-Weg. Auf der Suche nach Ruhe und Erholung. Der Weg umrundet den Osterbergsee. Friedrich Schröder war der Gründer der meisten Kurheime hier. Seinetwegen trägt BG auch dieses schmückende „Bad“ im Ortsnamen. Doch das Café „Seeterrasse“ steht leer. Was hat Friedrich Schröder falsch gemacht?

Der Osterbergsee. Das sind eigentlich zwei Seen. Die Enten schlafen. Oder sind sie tot? Die beiden Seen, die vielleicht auch ein See sind, tragen ein schleimiges braun-grünes Gewand. Im einen See schwimmen Kondom- und Hanutaverpackungen, im anderen Kondome und Hanutas.

Ein altes Ehepaar trifft auf ein anderes altes Ehepaar. Eine der Damen süßlich sächselnd: „Hallo! Gudn Morschn! Mir gehn nachert noch in de Stadt. Mei Mann will un muss sisch beweschn. Och wenners mitn Gnochn hat. Aber er sacht immer: Besser wird’s eh nich. Un sisch beweschn un Schmerzn zu ham is immer noch besser, als sisch nich zu beweschn un och Schmerzn zu ham.“ Der Mann selbst äußert sich nicht zu der von seiner Frau geäußerten Diagnose. Die andere Frau entgegnet stattdessen im selben Dialekt: „So so. Du isch hab geheert, dass morschn es Friehstick um halb siehm is. Mei Mann un isch findns gut, denn mir sin sowieso Friehaufsteher.“ Auch ihr Mann schweigt zu diesem Thema, steht nur daneben und betrachtet stumm die weibliche Szenerie? Ob sich diese Menschen gerade erholen?

Plötzlich höre ich einen massiven Krach. Ein Gebrüll eines Mannes. Es klingt nach Anweisungen eines strengen Pädagogen: „Aufsteigen auf’s Rad! Sina! Hörst du?“ Ein Sportlehrer mit seiner Klasse auf Exkursion? Ich kann es kaum erwarten vor Spannung. Getrampel. Und dann kommen sie um die Ecke. Keine Schulklasse, sondern ein Mädchen, vielleicht drei oder vier Jahre alt, im Laufrad, angetrieben von einem mit einer Videokamera bewaffneten Vater. Dieser brüllt in einem Furt: „Schneller Sina! Wo willst du denn hin? Links geht’s zu den Enten. Na los! Komm! Kuck mal in die Kamera. Sina. Los! Kuck her! Sag: Hallo, Papa!“ Sina flüstert: „Hallo, Papa.“ Der Sina vor sich her scheuchende Vater blökt wieder los: „Sag: Hallo, Mama!“ Sina wiederholt schüchtern: „Hallo, Mama.“ Sina’s Dompteur mit seiner Homedigicam kommentiert weiter: „Fein, Sina! Sag: Wir sind am See und füttern die Enten!“ Sina schweigt. Das stört Papa nicht im Geringsten. Und so brüllt er weiter, seine Kleine vor sich hertreibend: „Huhu, ihr alle! Wir, die Sina und ich, sind hier am Osterbergsee. Und wie schön das hier ist. Hier das Wasser. Da die Berge. Dort eine Trauerweide mit einer Bank darunter.“ Prompt setze ich mich auf die erwähnte Bank und zünde mir eine Zigarette an. Der Papa schreit: „Sooo. Wir füttern jetzt die Enten. Ich schalte mal kurz die Kamera aus. Bis später. Tschühüss!“ Ob sich Sina heute gut erholen wird?

Innerhalb von zehn Minuten ist der Osterbergsee, beziehungsweise die beiden Osterbergtümpel einmal umrundet. Positiv fallen mir die Schilder auf, die hier das Entenfüttern verbieten. Mit dieser Maßnahme soll die Sauberkeit und das ökologische Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Der See muss sich schließlich auch mal erholen von den ganzen Erholungssuchenden.

Weiter geht’s auf der Suche nach Erholung und Ruhe in BG, auf einem Nordic-Walking-Pfad der Kategorie „schwierig“. Ich denke mir nichts dabei und überwinde in der nächsten Stunde Fußmarsch gefühlte 500 Meter Höhenunterschied. Schwitzend stelle ich fest, dass der Pfad sich irgendwann im Bergwald verliert. Ich kehre um. Das Tal der Eterna. Es erinnert mich hier an Thüringen.

Plötzlich stehe ich im Kurpark von BG. In einem Becken sprudelt Sole-Wasser zum Trinken. Laut Beschilderung enthält es eine Menge guter Inhaltsstoffe. Ich lasse mich also nicht zweimal dazu auffordern, den Zaubertrank zu schlucken und schlurfe einen ordentlichen Hub weg. Das Elixier schmeckt wie brackiges Ostseewasser. In einen Frosch verwandle ich mich nicht. Stärker oder schöner werde ich auch nicht. Vielleicht setzt die Genesung oder Erholung später erst ein. Vielleicht auch erst in Jahrzehnten. Irgendwas wird schon passieren, davon gehe ich stark aus. Da vertraue ich dem Entdecker des guten Brunnens, Dr. Gutenbrunner. Der meint, das magische Wasser heile unter anderem arterielle Hypertonie, alimentäre Natriumdefizite oder orthastische Regulationsstörungen. Da wird schon ein Leiden das mich betrifft oder mal betreffen könnte, dabei sein. Also nur gut, dass ich Vorsorge betreibe.

Neben dem Jungbrunnen noch eine aquamedizinische Erfindung: Ein kleines Becken, konzipiert vom spitzfindigen Pfarrer Kneipp. Ein Text auf einem Schild neben dem Becken erklärt sehr ausführlich die hier anzuwendende Methode des Wassertretens. Man soll sich nach langem Spaziergang unten rum frei machen, also im Fußbereich und je nach Übung, etwa 30 bis 60 Sekunden im sogenannten „Storchengang“ durch das Wasser laufen. Das will ich ausprobieren. Ich alter Performancehase lese diese Badevorschrift auch als Regieanweisung für eine an mich und meinen Körper gestellte Prüfung. Und so lege ich los. Das Wasser hat in etwa die Temperatur des Nordatlantiks an dem Tag, als die Titanic sank. Bei einer Außentemperatur von 10°C hat Pfarrer Kneipp scheinbar seine Experimentieranordnung nicht testen können. Ich vermute auch, dieser Pfarrer war Sadist. Denn sein Nachname, Kneipp, entspricht dem thüringischen Wort für „jemanden kneifen“. Doch ich gebe nicht auf und performe ganze 70 Sekunden lang den Storchengang, während Kneipp mich kneift.

Laut weiterer Anweisung des Schildes soll nach dem Fußbad wieder ein Spaziergang folgen. Ich latsche also weiter auf der Suche nach Ruhe und Entspannung und Kur. Ich gelange auf den Jakobsweg. Der durch ganz Europa verlaufende, mit einer blauen Jakobsmuschel gekennzeichnete Pilgerinnen- und Pilgerweg, lässt natürlich auch BG nicht aus und führt hier am Rande von leergefegten Straßen vorbei an Gewerbegebieten und einer Biogasanlage.

Schließlich begleitet mich der Weg zum höchsten Punkt der Stadt. Der Flugplatz von BG. Blick zum Brocken. Wie immer wolkenverhangen. Neben mir startet ein grüner Doppeldecker, der gen Brocken fliegt und irgendwann zwischen den Wolken als kleiner Punkt verschwindet. Dann noch ein Start. Ein Ultraleichtflugzeug. Weiß und geräuschlos kreist es über dem Acker, auf dem ich stehe. Am Waldesrand fliegt ein Falke. Er ist in der Luft stehengeblieben. Etwa fünf Minuten verharrt er in dieser Position, um sich dann schließlich, wie aus dem Nichts, hinunter in den Acker zu stürzen. Vielleicht erspäht er eine Maus. Vielleicht merkt er, dass ich Mensch, ihn Künstler der Lüfte beobachte und ihn auch gleich versuchen könne zu kopieren. Vielleicht hatte er Angst, ich würde hinter das Geheimnis kommen, wie man in der Luft stehen bleibt und flieht, so wie ein Zauberer, der Angst hat, ein kleines Kind könne bei einer Geburtstagsvorführung seine Tricks erraten.

Ich marschiere wieder zurück gen Stadtzentrum von BG. Da stand es plötzlich: Völlig überraschend ragt das „Ramba Zamba“ in den Vormittagshimmel. Über dem Eingang prangen Schilder wie: „Ihre Einkaufshölle!“, oder: „Hier gibt’s alles!“, „Spottbillig!“. Der Parkplatz vor dem „Ramba Zamba“ völlig überfüllt, vor allem mit holländischen Automobilen. Hier handelt es sich um den menschenreichsten Ort der Stadt, wie mir scheint. Am parkplatzeigenen Schnellimbiss eine kilometerlange Schlange. Ist das hier wohl ein Erholungsort in BG? Auch wenn mir diese Frage ein wenig komisch vorkommt, den Leuten im Inneren der riesigen Spittel-Mall scheint es hier zu gefallen. Der Ort versprüht eine gewisse Ironie. Die Preise aller Produkte bewegen sich zwischen 99 Cent und  2,99 €, dennoch prangt am Eingang die Abschreckung Diebe würden hier mit Elektroschocks bestraft. Ich wandle vorbei an Kosmetik, Handwerksgerät, Haushaltszubehör und Gartenmöbeln. Es gibt hier tatsächlich alles. Meine distanzierende Skepsis überwinde ich schnell. Vom Beobachter der skurrilen Schnäppchenjagd mutiere ich selbst zum Schnäppchenjäger: Ein Liter Haarshampoo für 1,99 €, Zahnseide zwei Packungen für 99 Cent. Ich greife zu! An der Kasse fragt die Verkäuferin die Frau vor mir: „Wollen Sie nicht doch lieber vier Feuerzeuge? Dann sind wir nämlich bei einem Euro!“ Die Dame reagiert: „Gut, dann nehme ich vier!“ Natürlich kann man sich fragen, was sie mit vier Feuerzeugen eigentlich so dringend anstellen will. Was soll ich mit 2 Packungen Zahnseide auf einmal? Doch die Frage stellt sich nicht. Auf meiner Exkursion durch BG suche ich die größtmögliche Entspannung. Ehrlich gesagt, „Ramba Zamba“ hat mich tiefenentspannt. Ein Liter Shampoo, zwei Packungen Zahnseide, vier Feuerzeuge für die Dame vor mir, megaentspannend.

Weiter Richtung Innenstadt. Hier runde ich die Entspannungstour mit dem Besuch der romanischen Stiftskirche ab. Hier lagert die wohl größte Reliquie der Welt. Der Kiefer eines 15 Meter langen Buckelwals. Im Mittelalter schleppten die Menschen diesen Brummer hierher, weil sie dachten, es sei der Wahlkiefer, durch den schon der Prophet Jonas bei seinem Besuch im Walfischbauch schritt, als er beim Storchengang nach den Anweisungen des Pfarrers Kneipp ausversehen zu tief ins Wasser gelangte. Die Kirche, schön, restauriert, hell, groß, mit Krypta ausgestattet und vielen barocken Gräbern diverser Äbtissinnen, die diesen Stift hier verwalteten. Unter anderem ruhen hier die kunstsinnige Elisabeth Ernestine von Sachsen-Meiningen und zwei Geschwister aus Mecklenburg. Über dem Altar noch ein paar Kelche und Schalen aus vergoldetem Silber, gestiftet von eben jener Elisabeth Ernestine. Wer erfand nochmal das Märchen von armen und zurückhaltenden Protestantismus? Am Eingang zur sogenannten Schatzkammer, die ich nicht besuche, weil mir die Eintrittspreise zu hoch erscheinen, sitzt eine Frau an der Kasse, die Geld zählt. Es riecht mir alles zu sehr nach Abzocke, wenn auch weniger offensichtlich als im „Ramba Zamba“.

Ich lasse die heiligen Stätten hinter mir und nehme Platz im sogenannten „Caféhaus“. Auch hier ein leichter Hauch Barock, zumindest Gelsenkirchener Barock, bei Möbeln und Bildern an den Wänden. Sonst eher schlichtes weiß. Im Fernseher im hinteren Bereich des Cafés eine Doku über italienische Gärten an der sorrentinischen und amalfitanischen Küste. Entspannung, Ruhe und Seelenheil werden in BG großgeschrieben, das verspricht auch das Vorwort der Speisekarte, die mir eine nette Dame reicht, nachdem ich ihr gegenüber meinen Wunsch äußere, speisen zu wollen. Dann verlässt sie das „Caféhaus“. Als ich mir nach etwa fünf Minuten Bedenkzeit bei dem Inhaber des „Caféhauses“ eine Suppe bestellen will, fährt dieser mich an, ich hätte doch gesehen, dass seine Frau, die auch die Köchin hier ist, soeben das Lokal verlassen habe. Die Küche sei jetzt geschlossen. Ich nehme also mit Stracciatellatorte und einem Kaffee vorlieb.

Ach, BG! Vielleicht liegt das Wesen dieses Kurorts in der Konfrontation der Gegensätze. Entspannung und Spannung! Nur durch die vorher erlebte Spannung ist mir es möglich, mich jetzt zu entspannen. Und BG scheint voll von diesen Spannungs- und Entspannungsgegensätzen: verdreckter See – klare Sole-Trink-Quelle, Nordic-Walking-Pfad mit Berganstieg – Kneipp-Becken mit Tiefgang, Romanik – Barock, Flugplatz – Pilgerinnen- und Pilgerweg, Kirchenschatzkammer – „Ramba Zamba“.

 

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One Response to BG – Kur

  1. Phil says:

    Toller Text! – Und sehr witzig, dieses … Städtchen nach einem Jahr nochmal durch andere Augen erzählt zu bekommen.

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