Was ist Wissenschaft?

13. August 2011, zwischen Frankfurt/Main und Nürnberg

Was ist Wissenschaft? – Eine kleine Beobachtung

   Ich sitze in der Eingangshalle des Frankfurter Hauptbahnhofes vor einem der kleinen Cafés, die die rechte Seite der Halle säumen, und trinke eine heiße Schokolade. Ein paar Meter nach dem mittleren Eingangstor steht ein überdimensioniertes Mikroskop, ungefähr so hoch wie ein ausgewachsener Mensch, das Okular befindet sich etwa in Augenhöge. Es steht auf einem flachen Podest, am Okular hängt ein Zettel. Ich sitze so, dass ich das Mikroskop lediglich von rechts hinten sehe, also weder den Zettel lesen, noch die genaue Beschaffenheit des Okulars erkennen kann. Eine hüfthohe Mauer, vor der das Mikroskop steht, versperrt mir die Sicht auf den Objekttisch und -träger – oder die Stelle, wo ich sie vermute.
   Es ist ein Samstagmittag im August, also kein Arbeitstag, keine Hauptverkehrszeit, Ferienzeit. In der Halle halten sich verstreut wartende Reisende auf, und auch die Menschen, die durch die Eingangstüren hereinkommen – also direkt auf das Mikroskop zugehen –, haben es zumeist nicht besonders eilig. Vereinzelt bleiben Leute interessiert vor dem Mikroskop stehen, betrachten es, lesen den Zettel und treten dann meist zögernd auf das Podest, um in das Okular zu schauen. Manche schauen nur kurz hinein und schlendern dann mit einem abschließenden kurzen Blick auf das überdimensionierte Modell weiter. Manche nehmen sich ein wenig mehr Zeit, manche entwickeln eine gewisse Akribie und Ausdauer bei der Betrachtung dessen, was durch das – oder im – Mikroskop zu sehen ist. Manche gehen im Anschluss um das Mikroskop herum, um sich den Objekttisch und -träger – oder die Stelle, wo ich sie vermute – anzuschauen. Immer wieder einmal ziehen diejenigen, die gerade hindurchschauen, weitere Neugierige an, sodass sich manchmal sogar eine kleine Schlange bildet.
   Die Neugier packt viele: Eine junge Europäerin mit Backpackerrucksack und ziemlich großer Brille, die sie einerseits beim Durchgucken zu stören scheint, die sie andererseits aber offenbar braucht, um überhaupt etwas zu sehen. Einen kleinen dicklichen Südamerikaner mittleren Alters mit blauem Hemd und Krawatte, der auch seinen Camcorder an das Okular hält. Einen hochgeschossenen Asiaten, der zunächst versucht durch das Mikroskop zu schauen, ohne auf das Podest zu treten, und als dies nicht funktioniert, die Sohlen seiner schwarzen Lackschuhe eingehend prüft, bevor er dann doch zögerlich drauftritt. Ein schwarzes Mädchen, das seinen etwas älteren Bruder und seine Mutter herbeizieht; die Mutter hebt die Geschwister nacheinander zum Hindurchschauen hoch. Einen weißhaarigen hageren alten Mann, der wirkt, als wolle er durch eine äußerst kritische Haltung und ein ausgestelltes Desinteresse die seinem Alter eigentlich unangemessene kindliche Neugier verbergen. Ein jüngeres Paar in Businessanzügen; er hilft ihr etwas unbeholfen auf das Podest, da ihre Stöckelschuhe scheinbar nicht für so etwas gedacht waren. Einen älteren arabischen Mann, der versucht, die ebenfalls überdimensionierten Räder zum Scharfstellen des Okulars zu bedienen – worauf eine auch von mir bisher unbemerkte Aufsichtsperson herantritt und ihn offensichtlich dazu anhält, das Modell nicht weiter anzufassen.
   Wenn die Beobachter nicht allein sind, tauschen sie sich hin und wieder kurz über das Gesehene aus – zumindest nehme ich das an, ich sitze nicht nah genug, um die Äußerungen verstehen zu können. Aber die meisten ziehen weiter und machen dabei nicht den Eindruck, als würde sie das, was sie da gesehen haben, im Weiteren besonders beschäftigen – bis eine Familie offenbar arabischer Herkunft an das Mikroskop tritt. Nachdem alle Familienmitglieder einmal in das Okular geschaut haben – der Vater, die jüngere Tochter und die ältere Tochter, der Sohn und zuletzt die Mutter – stellt die jüngere Tochter offenbar eine Frage. Der Vater setzt ein und antwortet, sichtlich überzeugt von seiner Äußerung. Die ältere Tochter scheint mit der Antwort nicht einverstanden zu sein und äußert sich ihrerseits. Damit beginnt eine Diskussion, in die sich bald auch der Sohn einmischt. Immer wieder wird dabei von den verschiedenen Parteien auf das Mikroskop verwiesen und anschließend reihum durch das Okular geschaut, und auch die jüngere Tochter, noch zu klein, als dass sie von allein herankäme, wird hochgehoben und anschließend von den Disputanten als Zeugin angerufen – dies scheinen zumindest die jeweiligen Haltungen nahezulegen. Die angeregte Unterhaltung zieht bald weitere Menschen an, die immer wieder von der Familie zum Mikroskop durchgelassen werden, hindurchschauen, und dann entweder belustigt weitergehen, sich zu der Familie gesellen und die Diskussion unbeteiligt verfolgen, oder sich zeitweilig an der Diskussion beteiligen. So verläuft der Disput eine ganze Weile, bis die Mutter, die sich sichtlich amüsiert, aber nicht uninteressiert herausgehalten hatte, an die Zeit erinnert, und die Debatte zum Unmut der Beteiligten abgebrochen, oder doch zumindest vertagt werden muss. Nach und nach löst sich das Grüppchen wieder auf und das Mikroskop steht aufs Neue für vereinzelte neugierige Passanten bereit.
   Ich zahle meine heiße Schokolade und gehe zum Zug, ohne den Zettel gelesen oder durch das Okular geschaut zu haben. Im Zug packe ich meinen Laptop aus und beginne meine Beobachtungen der Beobachter aufzuschreiben.

   Ich befand mich tatsächlich am 13.8.2011 zwischen kurz nach zwölf und kurz vor eins an besagtem Ort und trank tatsächlich eine heiße Schokolade. Tatsächlich stand auch das Mikroskop wie beschrieben dort, und ich konnte es tatsächlich genau so wie beschrieben sehen. Ich habe tatsächlich weder hineingeschaut, noch den Zettel gelesen oder den Objekttisch betrachtet. Und tatsächlich habe ich den größten Teil dieses Textes anschließend im Zug verfasst. Was die Beschreibungen der Beobachter betrifft, basieren sie auf meinen tatsächlichen Beobachtungen, ich habe sie jedoch zusammengefasst, erweitert und weitergesponnen. Aufgrund dieser ungenauen bis frei erfundenen Darstellung mit unpräzisem und umgangssprachlichem Begriffsapparat, die auch vor plakativer Stereotypisierung nicht zurückschreckt, sowie der Tatsache, dass ich keine einzige der von den Beobachtern getätigten Äußerungen gehört habe und somit ihre Versuche der Hypothesen- oder gar Theoriebildung – ohnehin größtenteils rein fiktional – keinerlei Beachtung finden konnten, kann dieser Text nicht den geringsten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Dies führt natürlich unmittelbar zu der Frage, was der Text überhaupt mit der im Titel gestellten Frage zu tun hat. Nun, ich darf sagen, dass ich eine Hypothese dazu habe, der Versuch sie darzulegen wäre an dieser Stelle jedoch eindeutig verfrüht.

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