Meine Sicht der Dinge

Ich habe sie alle nicht mehr gesehen seit der Pandragonsache. Von keinem mehr gehört. Ich meine damit vor allem meine beiden ehemaligen Mitbewohner, Lukas und Nina. Eine fabelhafte WG, sage ich Ihnen. Kommentarlos gegangen.

Gut, Lukas hatte hart an dieser Sache mit Kili zu kauen, wurde immer schweigsamer, saß tagelang vor einer Tasse kalten Kaffees, die Augen müde, mit hohlen, eingefallenen Wangen, wie vorzeitig gealtert, den Blick in eine ferne Leere verloren. Manchmal schrak er plötzlich aus dieser Haltung hoch, murmelte ein paar Worte, wurde dabei gelegentlich wütend und laut und versank dann wieder in dieser Lethargie. „Pandragon“ hatte ich mehr als einmal gehört. Klar und deutlich sogar aus dem Nebenzimmer zur Küche vernommen. Auch chinesische Namen, Ling Xuan, Kung Pao oder so was in dieser Art. Und auch: Dieses verfluchte Quanxi. Dabei habe ich ihn mal aufstehen sehen, mit einer wilden schnellen Handbewegung den vollen Aschenbecher vom Tisch fegen sehen, ein kurzes Glimmen in den Augen, bevor er unversehens zurück in den Stuhl sank.

Nina hat von da an immer mehr Zeit bei ihrem Pferd verbracht, schlief irgendwann dort im Stall. Nachts hörte man manchmal das Knarren der alten Treppe, wenn sie in die Wohnung schlich (Lukas saß wie den ganzen Tag, die ganze Zeit, rauchend im Dämmerlicht der Küche), um sich Lanzarotephotos zu holen, mit denen sie sich vielleicht den Pferdestall etwas aufhübschen wollte. Wer weiß. Ich war sehr beschäftigt mit einer umfangreichen und schwierig zu recherchierenden Monographie über den bekannten Nachtforscher Dr. Karl Nimeni. Eine Arbeit, die meine ganze Aufmerksamkeit und Energie forderte. Ich blätterte akribisch tagsüber in alten Folianten in diversen Bibliotheken überall im deutschsprachigen Raum und schrieb des Nachts meine Erkenntnisse nieder. Wussten Sie etwa, dass Thomas Mann in seinen Tagebüchern verschlüsselt über Nimeni schrieb? Er nannte ihn V. Und auch eine frühe Fassung des Doktor Faustus behandelt weniger diesen Adrian Leverkühn, sondern trägt unverkennbar (parodistische ) Züge von Dr. Karl Nimeni. Aber ich schweife ab.  Vielleicht um auszudrücken, dass ich mir damals wenig Sorgen und Gedanken machte um die Beiden, um diese Pandragongeschichte und alles andere. Ich war völlig eingenommen von Nimeni und verausgabte mich total dabei.

Im Flur stapelte ich ihre Post. Kili hatte mal geschrieben. Chinesische Briefmarken auf einem großen blauen Kuvert. Auch von Phil kam ein Brief. Was wohl aus dem geworden ist? Ein cooler Typ. Ich hoffe, er hat diesen etwas seltsamen Kätzchenfetisch überwunden (vielleicht mal eine Geschichte des Fetisch schreiben, nach Nimeni). Ungeöffnet lagen sie da, neben Mahnungen für nicht mehr beglichene Miete, den nicht mehr benutzten Fusiontickets und diverser Reklame. Ja, gut. Lukas war also nicht mehr ansprechbar, antwortete auf nichts – sein Handy heulte drei Nächte bis der Akku erlosch – und Nina mied das Haus. Eines Morgens, ich glaube im Mai, holte sie mit drei großen Transportern und um die zwanzig Leute, ihre Sachen ab. Ich sah, wie sie die Möbel mit einem schweren Seil aus dem Fenster ließen. Zwei Tage später, oder drei, saß Lukas nicht mehr in der Küche. Auf dem Kaffee in der kalten Tasse schwamm eine weiße Schicht. In seinem Zimmer sah ich alle Dinge unverändert und an ihrem Platz. Das lange nicht mehr benutzte Dominion- eine Grabstätte guter Erinnerungen an schönere Zeiten. Auf dem Boden lag sein Leopardenhut und überall stapelten sich, vielleicht wie in einem Warenlager, diese ganzen Pandragonmerchandiseartikel. T-shirts, BHs, Sweater, Schlüsselanhänger, Wurfmesser usw. Überall hatten die beiden, also Kili und Lukas, dieses Pandragonzeichen aufdrucken, aufnähen, einbrennen lassen. Und nun staubte alles folienverpackt im Zimmer ein. Einige Zeit lang lief das Geschäft mit dem  Zeug wirklich fabelhaft, verkaufte sich alleine und ich half auch mal aus, diese ganzen Anfragen über das Internet aus Asien zu beantworten. Aber wie gesagt, ich war, sehr beschäftigt zu dieser Zeit und bekam wenig mit.

Ich sitze immer noch in der stillen Wohnung, die innerlich zerfällt. Diese Tale-of-fiction-Bordüre an unserer Küchenwand hängt schlaf und in Schleifen herab, von der Decke tropft Wasser und gelblicher Putz bröselt von den Wänden. Sobald ich fertig bin mit der Nimeni-Sache, ziehe ich auch aus. Das Haus ist zu still, geradezu unheimlich. Und dann mache ich mich auf die Suche nach den beiden. Das kann es doch so nicht gewesen sein. Stefan M. hatte mir mal erzählt, er habe gehört, Lukas würde irgendwo für das Fernsehen arbeiten, als Experte für Europafragen. Aber das erscheint mir nach der Pandragonsache ausgesprochen unglaubwürdig.

Eine Sache möchte ich noch anfügen, sie ist mir aufgefallen, als ich nach Hinweisen von Beiden auf ihr Verbleiben suchte. Auf der dritten Stufe von oben der Treppe zur Wohnung klebt eine kleine Lache türkisenen Drachenbutes und lässt sich nicht wegwischen. Lukas hatte mir, bevor er in diese Art Umnachtung fiel, einiges Aufschlussreiches über Drachen erzählt (es war ein Abend in unserer Küche mit viel Wein und einem hochwillkommen Gast, als er davon anfing, meinte, er sei auf unglaubliche Sache gestoßen und was wir über Drachen wüssten). Daher erkannte ich sofort und unzweifelhaft an der seltsamen Farbe, die bei Lichteinfall anfängt smaragdfarben zu schimmern, das Blut eines Drachen. Und ich frage mich, wenn dieses Blut auf der Schwelle unserer Wohnung klebt, sind sie dann auch hier gewesen, so nahe bei uns, die Drachen?

This entry was posted in Textliches and tagged , , , , . Bookmark the permalink.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *