Der andere Lukas

Ich erinnere mich noch an einen Abend im Frühjahr 2014, als ich einen anderen Lukas in der Küche antraf, als jenen nahezu immer fröhlichen, ausgeglichenen Menschen, mit ich seit einem dreiviertel Jahr zusammen wohnte. Nur eine Woche war ich weg gewesen und doch war es, als würden Welten zwischen unserer letzten Unterhaltung und diesem Treffen in der Küche liegen. Als ich die Wohnung betrat schien keiner zu Hause zu sein. Die Küchentür war geschlossen, doch durch das Fenster in der weißen Holztür schimmerte Licht. Ich öffnete die Tür und blieb mit der Klinke in der Hand auf der Schwelle stehen. Lukas saß am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt. Die braune Lederjacke und den schwarzen Hut mit dem weiß-schwarz karierten Band hatte er noch nicht abgelegt. Das Gesicht unter dem Hut wurde von einem dichten Bart bedeckt. Er sah erbärmlich aus, wie er dort saß, zusammengesunken, die Stirn in Falten gelegt. Vor ihm ein Aschenbecher mit einer halb gerauchten, längst erloschenen Zigarette, daneben eine halbvolle Tasse und eine Kanne kalter Kaffee. Auf der Holztür zur Speisekammer klaffte ein tiefer Riss, der Boden darunter war mit Scherben bedeckt. Als ich eintrat blickte er nicht auf. Mit keiner Regung verriet er, ob er mein Eintreten überhaupt wahrgenommen hatte. Als ich ihn ansprach und er nicht reagierte, schaltete ich den Wasserkocher ein und kochte ihm frischen Kaffee. Er blickte mich an, nahm schweigend die Tasse, verließ die Küche und danach das Haus. Erst Tage später kam er mit der leeren Tasse in der Hand zurück und ging ins Bad. Der Bart war noch dichter geworden. Geduscht, rasiert und in frischer Kleidung stand er eine halbe Stunde später wieder in der Küche als der Lukas, wie ich ihn kennen gelernt hatte.

Er sprach nie darüber was geschehen war. Erst Jahre später, als wir beide unsere Promotion beendet hatten und längst nicht mehr in einer WG wohnten, hörte ich Gerüchte über das was passiert sein soll bei dem großen Erlanger Zerwürfnis. Es waren alles nur Bruchstücke, die sich allerdings zu einem Puzzle zusammensetzen ließen. Wie hoch der wahre Gehalt der Gerüchte ist, kann ich jedoch nicht beurteilen. Angeblich hatte Lukas auf einem Kongress in Berlin den Manager einer chinesischen Firma kennen gelernt, die gerade einen fähigen Zeichner für ein Projekt suchte und ganz begeistert vom Zeichenstil der Figuren in „Tale of Fiction“ war. So war es vermutlich Lukas, der dafür sorgte, dass Kili in Kontakt mit den Chinesen trat. Kili erstellte für ein Projekt, das angeblich „Pandragon“ hieß oder werfe ich da jetzt irgendwas durcheinander (?), die Zeichnungen. Das nächste was ich zu Pandragon weiß, ist, dass es zu einer Lebenseinstellung geworden ist, doch wie es von dem Projekt der Chinesen, wenn das überhaupt so hieß und ich mich in diesem Punkt nicht vollkommen irre, zu einer Lebenseinstellung, einer Lebensart, einem Lebensstil kam, weiß ich beim besten Willen nicht. Pandragon war einfach plötzlich da. Die Bewegung hatte nicht langsam, schleichend in unser Leben gefunden, sondern existiert von einem auf den anderen Tag. An jeder Straßenecke wurde man damit konfrontiert und sei es nur über die Menschen, die Pandragon-Shirts trugen. Man konnte sich ihr nur schwerlich entziehen, die meisten hatten eine Seite gewählt und nur wenige blieben zwischen den Stühlen sitzen. So kam es laut den mir zu Ohren gekommenen Gerüchten zum Erlanger Zerwürfnis. Was aber genau vorgefallen war, dass Lukas und Kili nicht mehr miteinander redeten, Stephan Winter sich öffentlich distanzierte (und wovon überhaupt?) und Phil einfach wortlos verschwand, habe ich nie erfahren. Vielleicht weiß dazu jemand mehr, der in dieser Zeit seinen Weg mit Lukas oder Kilian Wilde geteilt hat? Vielleicht weiß jemand mehr zu Kilians Job bei den Chinesen? Vielleicht weiß jemand mehr zu den Hintergründen von Pandragon? Aber die wichtigste Frage bleibt immer noch: Was haben die Drachen mit all dem zu tun?

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