Geständnisse einer unsteten Nacht

Das erste mal rief ich die Polizei gegen Mitternacht an. Wahrheitsgemäß beschrieb ich den Grad der Lautstärke, wobei ich besonderes Augenmerk auf den Rhythmus des Klirrens meiner Weingläser im Küchenschrank legte, die sich bereits am frühen Abend der generellen Lebhaftigkeit des Hauses angeschlossen hatten. Der Beamte am anderen Ende der Leitung legte viel Einsicht an den Tag. “Ja, das klingt doch nach einer guten Party!” Dem musste ich niedergeschlagen zustimmen; ich versicherte ihm, mich erst wieder zu melden, sollte dieser Umstand seine Richtigkeit einbüßen. Da der Schlaf sich nicht recht einstellen wollte, öffnete ich eine Flasche Montaignan, rot wie Schweineblut, und las in einem frühen Werk von Jean-Paul Satre, das ich vor einigen Monaten auf dem Flohmarkt erstanden und bislang nie die Muse hatte zu lesen. Ab und an fielen Betrunkene gegen die Wohnungstür oder versuchten gewaltsam einzudrungen, da sie sich im Stockwerk geirrt hatten. Interessante Korrelationen zum Inhalt meiner Lektüre blieben nicht aus, was mir ein Schmunzeln abrang. Gegen zwei Uhr ergriff mich dann doch eine gewisse dumpfe Melancholie. Ich begann mein Innerstes zu erforschen und über die Verursachung meiner Rastlosigkeit zu meditieren; mag sein, sagte ich mir, dass das sonorige Brummen des Gebälks mich an eine Melodie aus der Kindheit erinnerte, die ich auf dem Landhaus meines Großvaters oft vernommen hatte. Natürlich war mir das neuere Datum der Klänge wohl bewusst, seit einigen Stunden waren die Fenster meiner Nachbarn ja weit geöffnet.
Wie die Sinne uns doch Streiche spielen.

Auch beim zweiten Anruf gegen drei Uhr zeigte sich der Beamte wohlmeinend und unterbreitete mir eine verständige Nachfrage. “Ja, Haben sie denn schon mal versucht, einfach hoch zu gehen und mit zu feiern?” Beschämt gab ich zu, dass mich diese Eingebung bislang nicht befallen hatte. Ich bedankte mich eifrig und versprach, mich nicht wieder zu melden. Aufgeregt überlegte ich, wie diese neue Phase der Nacht zu beginnen wäre und was ich auf meine Unternehmung mitnehmen sollte. Da ich am nächsten Tag früh auf eine Vortragsreise aufbrechen würde, die mich einige Tage beruflich binden sollte, hatte ich kaum Spirituosen im Haus, wollte aber nicht mit leeren Händen im oberen Stockwerk auftauchen. Mehrmals hatte ich doch laute Schreie im Treppenhaus vernommen, dass das Bier bald leer sei. Schließlich fiel mir eine alte Flasche Calvados ein, die ich für besondere Anlässe aufgehoben hatte. Kaum, dass diese Pläne in meinem Kopf langsam Gestalt annahmen, verflog auch die unerklärliche Traurigkeit, die mich umgab, und ich stieg über den kleinen Teich, den einer der frohen Gäste vor meinem Schuhregal entleert hatte, im Treppenhaus bergan.

Kaum, dass man die Tür öffnete, wurden die dumpfen Bässe um all die reichen Klangereignisse bereichert, die Decken und Wände meinem neugierigen Ohr bislang verwehrt hatten. Groß meine Enttäuschung, als die Tür mit den Worten “Ey, das ist der Nachbar, mach bloß nicht auf!!!” unversehens wieder zugeschlagen wurde. Ich hörte noch “Der ist ja alt!!!” Man ließ mich nicht ein.

Diesmal legte der Beamte am Telefon eine grimmige Entschlossenheit an den Tag. Nur fünfzehn Minuten später waren einige Polizeikräfte vor unserer Wohnung. Man begleitete mich in den ersten Stock, ein schnauzbärtiger Einsatzleiter namens Förster wollte den Verantwortlichen sehen. Da die Bewohner selbst kaum mehr ansprechbar waren und mit ihren Leibern auch den Weg durch den Flur zur Küchenbar etwas erschwerten, verhandelte Herr Förster mit der Freundin einer meiner Nachbarn, die beachtenswert wenig kleidung trug. Herr Förster ermahnte sie, ein wenig rücksichtsvoller zu sein, um das Zusammenleben der Hausgemeinschaft nicht zu gefährden. “Seien Sie doch nicht so assozial!”sagte er streng, “Selbst auf einer Party voller Menschen wird doch noch Platz für ihren Nachbarn sein. Geben Sie dem Mann doch jetzt mal ein Bier!”
Kleinlaut gestand sie, das Bier sie leider alle.
Da holte ich meinen Calvados heraus. Herr Förster lachte und trank einen kleinen Schluck mit. “Aber nicht so viel”, brüllte er über die Bässe zurück.
Er sei noch im Dienst.

This entry was posted in Textliches and tagged , . Bookmark the permalink.

6 Responses to Geständnisse einer unsteten Nacht

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *