Hölderlin was here – die ersten 7 Tage.

MO
„We march on.“, singt Basement Jaxx. Und ich ziehe dazu konzentrische, größer werdende Schneisen durch die weißen Felder meiner Tübingenkarte, die sich wie Nebelfäden im Sonnenschein mehr und mehr auflösen. Am Neckerufer, über den Österberg, am feierlichen Hölderlin-Turm vorbei, bis raus in die Berge der schwäbischen Alb, auf dem Dichterweg Ludwig Uhlands. Liebevoll gestaltetes Leveldesign überall, Schön, schön…!

DI
Eigentlich marschiere ich hauptsächlich von meiner Zwischenmiets-Behausung am Bahnhof zur Uni-Bib, lese Lektüre und Romane und Weblogs, marschiere nach hause, marschiere in die Uni-Bib, nach hause, in die Uni-Bib… Lesen, scheigen, schreiben, lesen, denken. Kein Programm und keine Termine, keine Mitbewohner, die groß mit mir sprechen, Uni-Bib und Romane und Lektüre und Bahnhof. Nichtmal auf Kneipen hab ich Lust, weil ich auch noch ganz erkältet bin und nur huste und schnupfe den ganzen Tag. Als ich abends nochmal kurz meine eigen Stimme hören will, rufe ich jemand an, aber jemand hat gar keine Zeit gerade. Ich bin ein geschlossenes System.

MI
Kennst Du das noch im Urlaub, wenn man den ganzen Tag lang Geld ausgibt, wenn man sonst nichts groß tun kann? Ich kam vor dem Frühling hier an. Wenn ich nichts zu tun habe, gebe ich Geld aus. Ist besser als gar nichts zu tun. Gibt so viele Arthaus-Kinos und Ausstellungen und Büchercafes und Restaurants hier. Ein Vergnügungspark aus Kultur, und ich hab von einem wohlmeinenden Demiurgen eine Flatrate bekommen. Wäre zu zweit bestimmt lustig. We march on.

DO
Ein Treffen mit anderen Stipendiaten der Studienstiftung. Ich muss mich daran erinnern, dass ich nicht repräsentativ bin für ‘die Studenten’, nicht mal für ‘die Geisteswissenschaft’. Man diskutiert darüber, ob die Vorteile oder die Nachteile einer Studentenverbindung überwiegen. Ich schweige und bestelle ein neues Bier. Man diskutiert darüber, ob die Kameradschaft in Verbindungen ‘echt’ oder ‘künstlich’ sei. Ich bestelle ein neues Bier und sage doch mal was. Es dauert etwa 120 Sekunden, dann kurz Schweigen. „Naja, ich weiß auch nicht, aber dann könntest Du ja überall ‘Ideologie’ vermuten!“ Schwerwiegender Gedanke: Überall, mein Freund, überall…! Das gute an so einem Lackmus-Sonar: Man weiß sehr schnell, mit wem man nachher noch weiterziehen will und mit wem nicht.

Am nächsten Morgen liegt eine seltsame gestrandete Gestalt auf meinem Zimmerboden, mit einer halbgerauchten Tüte neben dem Kopfkissen. Dazwischen waren wir tief in der obersten Membran dieser Stadt, ihren Bars und Absturzkneipen und Clubs, und wohl auch irgendwo hoch oben auf einem Berg. Die erste Membran, das öffentliche Nachtleben, sie schützt die zweite Schicht, die versteckt darunter liegt: die privaten Orte, die Wgs, die ich noch nicht kenne. Ein bisschen wie bei Dante, ein Ring nach dem anderen. We march on.

FR
Wieder nur lesen und schweigen und lesen und schreiben und lesen. Ich rufe wieder wen an, aber man kann sich gegenseitig nicht recht finden. Empathie ist die praktische ökonomische Veranlagung fremde Emotionen mitzufühlen, um den Kreativitätsdruck an das fortwährende Ausarbeiten eigener Emotionen zu reduzieren. Ich bin ein hermetisches System. Jetzt lese ich tatsächlich mal Hölderlin, zum Trotz!

SA
Meine Erkältung ist besser. Endlich habe ich auch wieder Spaß an meinen Betäubungsmitteln. In einem Kellerclub legen zwei Fusion-Djs mit einer Loop-Machine auf, und in der Ecke liegt gravitätisch ein Trompetenkoffer. Nach all dem Lesen und Schweigen und Denken und Lesen und Schreiben endlich: Tanzen! Das System ist immer noch geschlossen, in einer sehr weit entwickelten (und potentiell dystopischen) Zukunft könnte das alles auch von einem Holodeck simuliert werden. Bis mich ein Mädel anspricht, ist aber mindestens zehn Jahre jünger als ich: „Kennen wir uns von Max neulich?“ „NO! I AM SOMETHING COMPLETELY NEW!“ „Oh, you speak no German?“ „Doch, aber ich bin ein hermetisches System!“ „Alter!“ Aber jetzt streckt der Typ von der Fusion endlich seine Griffel richtung Trompete, und dann passiert irgendwas, das Hölderlin mit Erzengeln beschrieben hätte, hellenischen Erzengeln. Der hatte auch einen an der Klatsche, Hölderlin! Das System muss tanzen!

SO
Ich weiß nicht recht, wo ich hier eigentlich gelandet bin. Aber jetzt sitze ich wieder in der Uni-Bib und lese und schweige und schreibe und lese und denke. Und ich schaue meine Handynotizen der letzten sieben Tage durch. Da ist was gespeichert von Donnerstag Nacht, 03:24am, von dem ich glaube, das war nicht dokumentarisch – eher so ne Idee für ein Comic, oder so: auf dem Weg vom Blauen Salon auf das Schloss Hohentübingen hoch hat mich einer an der Schulter angefasst, war schon etwas älter, und sagt völlig ohne Kontext: „Hölderlin ist wahnsinnig geworden!“ Hoffentlich ist das wirklich passiert! Ich weiß zwar nicht warum, aber ich glaube, das macht einen Unterschied.
The system marches on.

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8 Responses to Hölderlin was here – die ersten 7 Tage.

  1. Kili says:

    Ah. Toll. 🙂

  2. Stefan says:

    Huargh! Bilder! Grünness!

  3. tobias.mueller78@gmail.com says:

    Ist das zweite Foto von Dir? Falls ja, wie hast Du das gemacht?
    Wirkt so komischer surreal/super-real. Kann’s gar nicht richtig in Worte fassen…

  4. Der Lukas says:

    Also die Bilder sind geklaut. Bilder machen wir später wieder, jetzt war Text. Die Bäume sind auch trotz der ganzen Romantik noch nicht wirklich grün hier, vgl. “Mi”, 2. Satz.
    Soooo authentisch ist dieser Bericht jetzt auch nicht, dass er bis zur Sichtbarkeit hinabreicht…
    Phil hat aber trotzdem Recht mit seinen Links.

  5. Ulli says:

    Authentisch oder nicht, einfach wunderbarer Lesestoff :

    “Empathie ist die praktische ökonomische Veranlagung fremde Emotionen mitzufühlen, um den Kreativitätsdruck an das fortwährende Ausarbeiten eigener Emotionen zu reduzieren.”

    und ich freu mich schon heute auf den “Vergnügungspark aus Kultur” !

  6. Lixus says:

    Jetzt ist er schon über einen Tag online und mir fehlen immer noch die Worte. Aber das zumindest wollte ich mal gesagt haben!

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